Aurelio Buletti
Nicht jedes Staunen ist ohne Stimme / Non ciascuno stupore è senza voce
Gedichte 1970-2009
Herausgegeben und übersetzt von Christoph Ferber / Mit einem Nachwort von Giovanni Orelli
1., Aufl., März 2010
978-3-85791-601-4
'Der Poet ist kein Snob, der die Wirklichkeit verachtet / nein, er will sagen, wie sie ihm erscheint', schreibt Aurelio Buletti. Das ist sein Credo, seine Ästhetik, seine Lyrik. Sie ist von verspielter Leichtigkeit, elegant und doch im Alltäglichen verhaftet; sie soll ein Vergnügen sein, und sie soll den Dialog aufnehmen mit den Leserinnen und Lesern, sie zu unverhofften Gedankensprüngen verführen.
Buletti liebt die epigrammatische Kürze, die verblüffende Wende, die ironische Reflexion, die aphoristische Prägnanz. Seine Gedichte handeln von der Liebe, der Zeit, der Zerbrechlichkeit des Lebens und vom Schreiben selbst. Und bei aller Verspieltheit und Ironie sucht er doch eine Orientierung am Leben, dem sein Schreiben dienen soll: 'Wenn ich dem Leser irgendwie nützlich sein könnte, wäre ich sehr glücklich.'
© Yvonne Böhler
Aurelio Buletti
Aurelio Buletti (1946–2023), geboren in Giubiasco, studierte in Mailand und war viele Jahre im Tessin als Gymnasiallehrer tätig. Buletti veröffentlichte mehrere Gedichtbände und war regelmässiger Beiträger in Anthologien und Literaturzeitschriften. Seine Werke wurden zweimal mit dem Schillerpreis ausgezeichnet, letztmals in 2006.
© Yvonne Böhler
Christoph Ferber
Geboren 1954. Aufgewachsen in Sachseln, Obwalden. Studium der Slawistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Lausanne, Zürich und Venedig. Dort Promotion mit einer Arbeit zum russischen Symbolismus. Tätigkeit als freier Übersetzer. Wohnt auf Sizilien. 2014 Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur, 2016 dem Paul Scheerbart-Preis.Übersetzungen, fast ausschliesslich lyrischer Texte, aus dem Italienischen (Gaspara Stampa, Vincenzo Cardarelli, Eugenio Montale, Salvatore Quasimodo, Attilio Lolini, Giorgio Orelli, Giovanni Orelli, Pietro de Marchi, Remo Fasani, Aurelio Buletti, Francesco Chiesa, aus dem Russischen (Michail Lermontow, Fjodor Tjutschew, Sinaida Hippius, Fjodor Sologub, Wjatscheslaw Iwanow, David Samojlow), dem Französischen (Stéphane Mallarmé, Werner Renfer), dem Polnischen (Juliusz Slowacki) und Bulgarischen (Dimtscho Debeljanow).
© Yvonne Böhler
Giovanni Orelli
Giovanni Orelli (1928–2016) geboren in Bedretto, studierte in Zürich und Mailand und war Lehrer in Lugano. Seine literarische Karriere begann 1965 mit dem Roman «L'anno della valanga/Der lange Winter», welcher mit dem Premio Veillon ausgezeichnet wurde. Neben seinen Publikationen auf Italienisch, zu denen Gedichte, Erzählungen aber auch Literaturkritiken gehören, hinterlässt er auch Übersetzungen im Dialekt des Bedrettotals. Orellis Gesamtwerk wurde 1997 mit dem Gottfried Keller-Preis und 2012 mit dem Grossen Schillerpreis ausgezeichnet. Er zählt bis heute zu den herausragenden Schriftstellern der Schweiz.
«Giovanni Orelli gehört gewiss zu den kühnsten, doch auch zu den heitersten Poeten dieses Landes. Ärmer wäre die italienische Literatur und wären die Literaturen der Schweiz ohne die melancholische Anarchie seiner Gedichte und seiner Prosa.» Neue Zürcher Zeitung
Vorbemerkung
Aurelio Bulettis Gedichte entziehen sich jeder Etikettierung. Man konnte von Momentaufnahmen des Menschlichen sprechen, von kurzen, intensiven, meist ironisch-verspielten Reflexionen eines Meisters der Kleinkunst, von Versaphorismen, die das Paradoxe ebenso lieben wie das Gewohnliche, das Wahrscheinliche wie das Unwahrscheinliche. In einem Gedicht (Innumerevoli pagine) erzahlt uns der Autor von einem unwahrscheinlichen , womoglich improvisierten Kellner. Ein ebensolcher Schreiber mochte er sein, immer dabei, sich zu unterbrechen , alles aufzugeben, zu fliehen. So hat denn Buletti (im Gegensatz zu etlichen, auch weniger begabten Dichtern der Schweiz) jahrzehntelang uberhaupt nichts unternommen, um sich Publizitat zu verschaffen. Ein scheuer Mensch, der das Inkognito liebt, das er aber nun, nachdem er das Pensionsalter erreicht hat und rund ein Dutzend schmale Buchveroffentlichen vorweisen kann (alle ubrigens in Klein- oder Kleinstverlagen erschienen), nicht mehr ganz bewahren kann. In den letzten Jahren ist man, zumindest in der Schweiz, doch auf ihn aufmerksam geworden (auch in Italien kennt ihn seit langerem ein kleiner Kreis von Aficiondos, sein zweiter Lyrikband ist ubrigens in Sardinien erschienen). Dieser Aufmerksamkeit verdankt sich ein (eher widerwillig gegebenes) Interview in Viceversa Literatur (2007) sowie ein langerer Aufsatz von Gilberto Isella in den Quaderni Griogionitaliani (2006, Nr. 3). Ein Band mit ins Deutsche ubersetzten Erzahlungen und Kurzgeschichten ist zwar schon 1989 in Zurich erschienen, die Gesamtubersetzung der drei ersten Gedichtbande liegt seit 1998 in franzosischer Sprache vor, aber von einem Durchbruch kann immer noch nicht die Rede sein. Liegt das vielleicht daran, dass Buletti doch eher ein Dichter fur Liebhaber ist? Oder gar ein Liebhaber-, ein Sonntags -Dichter?
Man konnte wirklich meinen, viele seiner Gedichte seien an einem Sonntag geschrieben worden (und sind es wohl auch, denn Buletti war wahrend der Woche mit seinen Schulern 6 beschaftigt), denn sie kommen frisch, friedlich und schon frisiert daher, quasi im Sonntagskleid, und strahlen Sonne und Warme aus, und warum auch nicht: Liebe, nicht zuletzt Liebe fur Gio, seine Ehefrau und Muse, der er das Gedicht Fragen , eines der schonsten dieser Auswahl, widmet:
Wer hat dir Zoccoli gemacht,
welche Stoffschuhen ahneln?
So dass du, wenn du gehst
und dich naherst, immer neue
Schritte erfindest, im Schweigen
einer lieblichen Arhythmie?
Und noch
eine einfache Frage, warum anderst
du nicht deine Augenfarbe,
da du ihr Licht doch anderst, das Staunen,
die Ironie?
Hier gelingt es Buletti, zumindest seinem Staunen eine Stimme zu geben, dem Staunen eines Dichters, der das Staunen des Kindes bewahrt hat und der sicher um einiges weniger ironisch ist als seine Muse, der ich diese Ubersetzungen widmen mochte. Der Abend, den ich in ihrer und ihres Mannes Gesellschaft verbringen durfte, ist mir unvergesslich und hat mir eigentlich erst den Schlussel zu Aurelio Bulettis Poesie gegeben.Dafur sei Giovanna Roncoroni Buletti ebenso bedankt wie Anne Broger, die diesen Band liebevoll lektoriert hat.
Christoph Ferber
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