Giorgio Orelli
Sagt es den Amseln /Ditelo ai merli
Gedichte italienisch und deutsch
Herausgegeben und übersetzt von Christoph Ferber / Mit einem Nachwort von Pietro De Marchi
1., Aufl., Mai 2008
978-3-85791-556-7
Der Tessiner Dichter Giorgio Orelli schliesst mit seiner Lyrik an die grosse Tradition von Dante und Petrarca bis Saba und Montale an. Aus dem vorgeformten Material des Alltags baut Orelli Geschichten, deren Struktur reich und kunstvoll artikuliert ist. Die Verse Orellis rufen gekonnt die grossen Vorbilder auf und variieren sie subtil, ihre Klangbilder verbinden Laut und Sinn auf allen Ebenen. Orellis Gedichte lesen sich auch für jene, die sich in der italienischen Lyriktradition nicht auskennen, mit grossem Gewinn.
Zehn Jahre nach Orellis «Rückspiel/Partita di ritorno» folgt nun ein weiteres Buch mit Gedichten, wiederum ausgewählt und übersetzt von Christoph Ferber. «Sagt es den Amseln/Ditelo ai merli» enthält Proben sowohl aus Orellis frühem Schaffen als auch aus den Bänden «Sinopie» und «Spiracoli». Zentraler Teil aber ist eine umfassende Auswahl aus Orellis neuestem Buch 'Il collo dell’anitra'. Ein paar bisher unveröffentlichte Gedichte ergänzen die Ausgabe.
© Yvonne Böhler
Giorgio Orelli
Giorgio Orelli, 1921–2013, lebte als Lyriker und Literaturwissenschafter in Bellinzona. Studium an der Universität Freiburg i.Ue., Dozent der italienischen Literatur am Gymnasium in Bellinzona. Intensive Beschäftigung mit Goethe sowie Goethe-Übersetzungen. 1988 ausgezeichnet mit dem Grossen Schillerpreis.
«Der bedeutendste Lyriker der Schweiz – für alle Sprachen.» Börsenblatt für den deutschen Buchhandel
© Yvonne Böhler
Christoph Ferber
Geboren 1954. Aufgewachsen in Sachseln, Obwalden. Studium der Slawistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Lausanne, Zürich und Venedig. Dort Promotion mit einer Arbeit zum russischen Symbolismus. Tätigkeit als freier Übersetzer. Wohnt auf Sizilien. 2014 Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur, 2016 dem Paul Scheerbart-Preis.Übersetzungen, fast ausschliesslich lyrischer Texte, aus dem Italienischen (Gaspara Stampa, Vincenzo Cardarelli, Eugenio Montale, Salvatore Quasimodo, Attilio Lolini, Giorgio Orelli, Giovanni Orelli, Pietro de Marchi, Remo Fasani, Aurelio Buletti, Francesco Chiesa, aus dem Russischen (Michail Lermontow, Fjodor Tjutschew, Sinaida Hippius, Fjodor Sologub, Wjatscheslaw Iwanow, David Samojlow), dem Französischen (Stéphane Mallarmé, Werner Renfer), dem Polnischen (Juliusz Slowacki) und Bulgarischen (Dimtscho Debeljanow).
Pietro De Marchi
Pietro De Marchi, geboren 1958 in Seregno (Mailand), lebt seit 1984 in Zürich und lehrt dort italienische Literatur an der Universität. Er schreibt Gedichte und Kurzprosa. 1999 erschien der Gedichtband «Parabole smorzate e altri versi» mit einem Vorwort von Giorgio Orelli. Für seinen Band mit Gedichten und Prosastücken «Replica» erhielt er den Schillerpreis und eine kulturelle Auszeichnung des Kantons Zürich. «Das Orangenpapier / La carta delle arance» wurde mit dem Gottfried-Keller-Preis 2016 ausgezeichnet.Gedicht
et già di là dal rio passato è ’l merlo
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und schon hat die Amsel den Bach überflogen,
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Certo d’un merlo il nero mazzo di fiori d’un rosso sorpreso dalla morte nel breve buio d’un sottopassaggio l’indomani farfalla enorme d’un nero punteggiato di rosso nessuna traccia del giallo aranciato il terzo giorno crosta sfaldantesi in squame eczema dell’asfalto il quarto girasole dai petali rari raschietti di spazzacamino MAI SCOMPARSO così che di sull’orlo più d’una nuova potè raccontarmi lo spazzino-necroforo esperto solo di trasmutazioni rapide e in un mattino pareva lentamente incenerirsi ma nei fiati di nebbia del ritorno ancora suppurava toccati di bianco volani andavan variando protesi verso piogge sottili, già primaverili ditelo ai merli sui marmi invernali prima che i fiori del diavolo moltiplichino il becco delirino azalee |
Gewiss einer Amsel der schwarze Strauss Blumen und rot da vom Tod überrascht im kurzen Dunkel des Tunnels am Tag darauf riesiger Falter, schwarz und mit roten Punkten, keine Spur von Orangengelb am dritten in Schuppen sich blätternde Kruste Ekzem des Asphalts am vierten, fast blütenlos, Sonnenblume, Schab- eisen des Schornsteinfegers NIEMALS VERSCHWUNDEN so dass mir über den Randstein der Strassen- und Totenkehrer, in Eiligst- Verwandlungen kundig, noch von anderen Neuigkeiten erzählen konnte und eines Morgens schien alles langsam zu Asche zu werden doch im Hauch der zurück- kehrenden Nebel eiterte es noch immer von Weiss berührt flogen Federbälle im Zickzack hin zu den dünnfädigen Regenfällen des beginnenden Frühlings Sagt es den Amseln auf dem Marmor des Winters bevor noch die Teufelsblumen den Schnabel vermehren, Azaleen irr reden |
Auszug aus dem Gespräch zwischen Giorgio Orelli und Pietro de Marchi
Lassen wir die Literatur einen Moment sein. Wenn man Sie bitten würde, einen Namen, einen Titel auf dem Gebiet der Malerei oder der Musik zu nennen ...Als Maler würde ich sofort Giorgio Morandi nennen, von dem ich sehr früh Bilder gesehen habe, nämlich die, die Scheiwiller abgedruckt hat. Morandi ist der Petrarca und der Leopardi der Malerei, einer, der nicht viele Gegenstände braucht, der aber diese Gegenstände in einer imaginären oder phantastischen Ordnung aufstellen muss und diese Darstellung mit grosser stilistischer und chromatischer Folgerichtigkeit verwirklicht, mit einer ungewöhnlichen Klugheit in den Passagen, den Übergängen. Als Musiker nenne ich Mozart, hier vor allem den Don Giovanni. Man könnte fast sagen, dass Mozart die Musik ist. Die Erinnerung an Mozart kann einen Tag erhellen; manchmal denke ich auch beim Arbeiten an Mozart, an seine Leichtigkeit, die aus der Tiefe kommt und nichts mit Oberflächlichkeit zu tun hat. Im tiefsten Sinn des Wortes bin ich Mozartianer.
Und was den Film betrifft?
Ich gehe höchst selten ins Kino, doch die Filme, die ich bevorzuge, sind die, die in ihrem Innersten poetisch sind. Ich würde hier L'albero degli zoccoli von Ermanno Olmi nennen: In gewissen Passagen herrscht hier eine aussergewöhnliche Poesie, mit dieser Landschaft, diesem Herbstgeruch, es ist, als trete man in eine Seite von Manzoni: «Der Himmel war ganz hell». Und dann würde ich Ladri di biciclette von Vittorio De Sica nennen, einen Film, der mir sehr gefiel, als ich mit dem Schreiben von Erzählungen begann. Er stellte gewissermassen das Ziel dar, das ich vor Augen hatte, das heisst: eine Geschichte, die man bald erzählt hat, eine Geschichte, die praktisch auf dem Nichts baut. Und gerade dieses Bauen auf dem Nichts interessierte mich, auch rein technisch. Theodor W. Adorno hat geschrieben, dass man in einem gut gemachten literarischen Werk eine Perfektion erreicht, die an ein Spinngewebe denken lässt, das, von der Sonne auch nur an einem Punkt getroffen, überall aufleuchtet. Wunderbar! Wenn ich an literarische Modelle denke, kommt mir eine Erzählung von Arrigo Benedetti in den Sinn, Il prato, oder eine von Carlo Cassola, La visita. Dieser Zauber, dieses Erschaffen aus dem Nichts, dieses Viel-mit-wenig-Erreichen, mit den kargsten Mitteln und einer essenziellen Sprache, diese Sorge um das Wesentliche, diese Prosa, in der alles schweigt und die typisch für die toskanische Erzählkunst ist, sie war mein Vorbild. Von diesem Modell habe ich mich dann zwangsläufig entfernt, nicht zuletzt wegen meiner komplizierteren «lombardischen» Natur. Und hier müsste ich Gadda erwähnen, von der Wichtigkeit des Dialekts sprechen, aber das ist ein Thema, das im Tessin leicht auf Missverstehen stösst und in Ruhe abgehandelt werden sollte.
Über welches Gedicht, das Sie je geschrieben haben, sind Sie am glücklichsten?
Es gibt zwei oder drei, die mir besonders lieb sind. Eines ist dasjenige aus Spiracoli, in dem ich von einer toten Amsel spreche, die auf der Strasse zermalmt wurde. Es ist eines meiner ureigensten Gedichte, es entspricht genau dem, was ich schreiben wollte; inspiriert dazu hat mich der Maler Wols, von dem ich sehr beeindruckt war. Diese Verwandlungen, dieses sich stets ändernde Rennen hin zur Unsterblichkeit, diese sich immer wandelnde Illusion einer Unsterblichkeit, dieses Sterben und Nicht-Sterben, dieses Fortdauern der Überreste, dies ist ein grossartiges Thema – man denke an Foscolos Sepolcri oder an Lamartine –, und es scheint mir, dass ich etwas Neues, Originelles gemacht habe: Über so ernste und für jeden Sterblichen schwerwiegende Dinge zu sprechen mittels einer armen Amsel, die eine minimale, immer weniger zu erkennende Spur hinterlässt, selbst – und das kommt einem Wunder gleich – vom Gelb ihres Schnabels ...
Ravecchia, dieses höher gelegene Quartier von Bellinzona, ist voller Amseln. Ich sehe sie jeden Tag, wenn ich ins Zentrum hinuntergehe oder nach Hause zurückkehre, ob zu Fuss oder mit dem Fahrrad: Amseln überqueren vor mir die Strasse, sie verfangen sich fast in den Speichen des Fahrrads, und das Gelb scheint abhängig zu sein vom Schwarz. Sie sind so gelb und so schwarz, und dann sehe ich sie auf dieser Wiese, wo sie sich ungestört, den Vormittag dominierend, aufhalten.
«Das Werk, das sich radikal jeglichem Zeitgeist verweigert, besticht durch lichte, lichtdurchlässige Verse, in denen das Alltägliche ereignishaft gesehen wird und in sinnlichem Glanz erscheint. Mit diesem Gedichtband beweist Orelli, dass er zur Reihe der grossen italienischen Lyriker Montale, Quasimodo und Saba zählt.» Peter Hamm, Persönliche Empfehlung auf der SWR-Bestenliste
«Giorgio Orellis Gedichte sind vielschichtig und komplex. Doch auch eine erste Lektüre vermittelt grosses Vergnügen und lädt ein, sich Zeit und Raum für ein tieferes Begreifen und Entdecken zu nehmen. So kann das lyrische Mikroepos ‹Alter Klang› als eigenwillige Liebeserklärung des Dichters an Feld und Wald gelesen werden oder als poetisch-artistische Betrachtung über das gleichnamige Klee-Bild: ‹... die Zeit der langen Ruhepausen, der tiefblauen / Raben, die immer Ausreden hatten auf den Pfaden / der Ziegen ...›
Wir verdanken dieses plaisir de lire den kongenialen Übertragungen Christoph Ferbers, dem in Übereinstimmung mit Orellis italienischer Poesie klangvolle und farbenfrohe deutsche Äquivalente gelungen sind. Klang und harmonischer Zeilenfall haben Priorität vor identischer Gedicht- und Verslänge. Ferbers deutsche Fassungen der Orelli-Lyrik zeichnen sich durch Eigenständigkeit aus und reflektieren in kunstvoller Manier die eigenwillige Originalität des Dichters. Übersetzte Lyrik sollte eigentlich nur in synoptischer Form gedruckt werden, da sie das echte Erfassen vielschichtiger Literatur vollständig ermöglicht. Auch der Leser mit wenig Kenntnissen der Originalsprache kann mit Hilfe der Übersetzung die Originale geniessen und das Abenteuer der sprachlichen Transposition erfahren.
Das Poesiekonvolut dieses neuen Bandes ist umrahmt von einem aufschlussreichen Dichter-Gespräch zwischen Giorgio Orelli und Pietro De Marchi und einem Nachwort Pietro De Marchis: eine sublime und intellektuell anspruchsvolle Würdigung des grossen italienischsprachigen Meisters, der im Tessin lebt.» Neue Zürcher Zeitung
«Giorgio Orelli (geboren 1921) darf mit Fug und Recht zu den bedeutendsten zeitgenössischen Dichtern italienischer Sprache gerechnet werden. Der Tessiner hat dabei ein vergleichsweise schmales, jedoch umso gewichtigeres Werk vorzuweisen. Der Limmat Verlag legt nun erfreulicherweise wiederum einen zweisprachigen Band mit Gedichten Orellis vor gut zehn Jahre, nachdem der Autor mit ‹Rückspiel / Partita di ritorno› im deutschsprachigen Raum eingeführt wurde.» literaturkritik.de
«Giorgio Orelli ist ein Klassiker. Nicht nur, weil er mit Dante und Petrarca im Hinterkopf schreibt, sondern auch in seinem getragenen, schönen Ton und dem Aufbau seiner Verse.» St. Galler Tagblatt
«Dieser Dichter verfügt noch über Himmelsleitern, die zu den Wundern der Schöpfung führen. Giorgio Orelli, der Weltpoet aus Bellinzona, der nördlich des Gotthards kaum bekannt ist, steht in seinen Gedichten noch in lebendigem Kontakt zu dem gefährdeten Zauber von Flora und Fauna.» Basler Zeitung