Emil Brunner
Tausend Blicke - Kinderporträts von Emil Brunner aus dem Bündner Oberland 1943/44
Mit Erinnerungen der Porträtierten
Herausgegeben von Fotostiftung Schweiz / Mit Texten von Erika Hössli, Paul Hugger, Peter Pfrunder
5., Aufl., Dezember 2009
978-3-85791-410-2
Der Pressefotograf Emil Brunner war nicht nur ein weit gereister Reporter, er hatte sich auch den Blick für das Nahe bewahrt. Während des Zweiten Weltkriegs fotografierte er in elf Gemeinden im Bündner Oberland Leute, besonders Kinder. Er porträtierte sie auf eine berührende und doch distanzierte Weise, die den Menschen ihre Eigenheit beliess. Eine Auswahl aus dieser einzigartigen Porträtserie, die rund 1700 Fotos umfasst, wird nun zum ersten Mal gezeigt: Eindrückliche Bilddokumente aus einer fernen sozialen Wirklichkeit, jenseits der idealisierenden Heidi-Welt.
Die Texte von Erika Hössli vertiefen den Blick in die damaligen Lebenswelten der Kinder. Sie befragte einige der Fotografierten, die sich heute – fast sechzig Jahre später – an ihre Kindheit zur Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnern: Sie erzählen von Alltäglichem und Aussergewöhnlichem, von Wohnen und Essen, von Arbeit, Schule und Spielen, von Kranksein und Angst, von Festen und Träumen.
© Limmat Verlag
Emil Brunner
Emil Brunner (1908–1995) verbrachte sein Leben vorwiegend auf Auslandreisen. Von seinen Wohnorten Baden und Braunwald aus brach er immer wieder in alle Himmelsrichtungen auf – kaum eine Gegend zwischen Spitzbergen und St. Helena, von der er nicht zahlreiche Aufnahmen über Land und Leute nach Hause gebracht hätte. Das nach seinem Tod im «Chalet Mungg» zurückgebliebene fotografische Lebenswerk wird heute von der Fotostiftung Schweiz (Winterthur) betreut.Fotostiftung Schweiz
Die 1971 gegründete Fotostiftung Schweiz ist ein Ort für die Erhaltung, Erforschung und Vermittlung des fotografischen Kulturguts (www.fotostiftung.ch). Neben einer Sammlung von über 50000 Originalabzügen betreut sie die Archive und Nachlässe oder Teilnachlässe von mehr als fünfzig Fotografinnen und Fotografen. Die Fotostiftung Schweiz nimmt, zusammen mit ProLitteris, häufig auch die Urheberrechte wahr. Die aufgenommenen Archive umfassen hunderte bis hunderttausende von Bildeinheiten; sie bestehen aus Negativarchiven, Originalabzügen, Kontaktkopien, Diapositiven, elektronischen Bilddateien, Publikationsbelegen und schriftlichen Dokumenten.© Yvonne Böhler
Paul Hugger
Paul Hugger, 1930–2016, Studium der Volkskunde, Ethnologie und Romanistik, em. Ordinarius für Volkskunde an der Universität Zürich. Zahlreiche Publikationen über Schweizer Fotografen, zur Alltagsfotografie, Herausgeber u. a. des Handbuchs der Schweizerischen Volkskultur, «Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre», Herausgeber der Reihe «Das volkskundliche Taschenbuch» und Mitherausgeber «FotoSzene Schweiz» im Limmat Verlag.Peter Pfrunder
Peter Pfrunder, geboren 1959 in Singapur, aufgewachsen in der Schweiz. Studierte Germanistik, Europäische Volksliteratur und englische Literatur in Zürich, Montpellier und Berlin. 1995 bis 1998 Co-Leiter des Forums der Schweizer Geschichte / Schweizerisches Landesmuseum, Schwyz. Von 1998 bis 2024 Direktor und Kurator der Fotostiftung Schweiz in Winterthur. Lebt in Zug. Zahlreiche Veröffentlichungen und Ausstellungen zur Schweizer Fotografie, u. a. «Theo Frey, Fotografien», «Gotthard Schuh – Eine Art Verliebtheit», «Schweizer Fotobücher 1927 bis heute – Eine andere Geschichte der Fotografie».Ein fast verschollener Nachlass und seine Irrfahrt
von Paul HuggerIm Frühsommer 1996 informierte mich Jürg Zimmerli vom Limmat Verlag, auf seinem Pult sei das Schreiben eines ihm nicht bekannten Fotografen Emil Brunner von Braunwald gestrandet, welches dieser zwei Jahre früher an einen anderen Verlag gerichtet habe. Darin weise Brunner auf sein Fotoarchiv hin, das mit den zahllosen Aufnahmen aus der weiten Welt einen Verleger interessieren könnte. Dringender Handlungsbedarf schien geboten. Im Telefonbuch war unter Braunwald kein Emil Brunner mehr aufgeführt. Eine Anfrage im Bergdorf ergab, dass dieser vor Jahresfrist verstorben war. Aber – so meinte der entgegenkommende Posthalter – der fotografische Nachlass befinde sich wohl noch im betreffenden Chalet; ein Anruf beim Nachlassverwalter in Glarus würde da Klarheit bringen. Dem war so. Kurzfristig, nahm ich im Juni, zusammen mit Jürg Zimmerli, einen Augenschein in Braunwald vor. Das Chalet «Mungg», der ehemalige Wohnsitz Brunners, liegt etwas oberhalb der Kernsiedlung am Sonnenhang, behäbig, mit einem eindrücklichen Blick in die Tiefe des Tals. Es war an eine junge Familie vermietet. In der ehemaligen Dunkelkammer und dem anschliessenden Verpackungs- und Verkaufsraum stapelte sich der fotografische Nachlass. Rund herum auf Gestellen und Tischen türmten sich Berge von Schachteln mit fotografischen Vergrösserungen, Negativen, Bildlegenden, standen Leitz-Ordner mit Korrespondenzen und Belegen aus Zeitschriften und Reiseprospekten. Dazwischen lagen Geräte, Papiere, Kataloge etcetera. Stichproben zeigten, dass es sich um ein umfangreiches Oeuvre handelte, dem ohne Zweifel dokumentarischer Wert zukam. Bereits zeigten sich Spuren von Wasserschäden, verursacht durch die Feuchtigkeit, die stellenweise von der oberen Terrasse her eindrang.
Die Zukunft des Archivs erwies sich als ungesichert. Die Nachlassverwalter wollten das Haus möglichst rasch verkaufen. Was dabei mit den Bildern geschehen würde, war offen. Ich gelangte umgehend an das Bundesamt für Kultur in Bern mit der Empfehlung, den Nachlass zum bescheidenen Preis zu erwerben, den ich an Ort und Stelle vorgeschlagen hatte. Ich tat dies aus einer gewissen Tradition heraus; hatte ich doch der Bundesstelle, respektive ihrer Unterabteilung, dem Eidgenössischen Archiv für Denkmalpflege, schon manchen Nachlass vermittelt, etwa den des Zürcher Fotografen Theo Frey. Man werde sich darum kümmern, lautete die Antwort.
(Fortsetzung im Buch)
Erinnerungen
«Mein Vater pflegte uns zu scheren. Das war Routinearbeit für ihn, schor er doch jeweils im Frühjahr die Schafe. Uns liess er immerhin in der Mitte des Hauptes einen fünf bis sechs Zentimeter breiten Streifen längeres Haar stehen. Ich hasste die Haarschnittidee meines Vaters. Ich hätte jeden Kahlschlag vorgezogen. Wir waren gebrandmarkt, zum Glück nur für zwei, drei Wochen. Die Mädchen trugen Zöpfe, manche lange, dicke, auf die sie draufsitzen konnten.»«Die Buben hatten es bequem, kein morgendliches Reissen, Stöhnen und Zanken mit Mutter, Kamm und Bürste, keine Knöpfe im Haar und keine langwierige, schmerzvolle Haarwäsche. Wir waren lauter Mädchen. War Haarwäsche angesagt, sassen wir da wie junge Hexen mit offenem Haar um eine Gelte (Blechwanne) versammelt und warteten auf Mutter, die mit entschlossener Miene und Folterwerkzeugen erschien. Wir schoben ihr gnadenlos die Schuld zu, wenn es zwickte und riss.
Mit dem Grösserwerden entwickelte sich auch der Wille und der Mut zur Frisurenvariante. Als meine ältere Schwester einmal in einer starken Minute zur Schere griff und sich ihre Zöpfe um mutige zehn Zentimeter kürzte, lachten wir sie aus, bis sie vor Scham und Wut weinte. Wir Kleineren hatten damals noch kein eigentliches Bedürfnis zur Verschönerung unserer Frisuren und auch nicht den nötigen Blick dafür, aber was ich von klein auf hasste, waren Zöpfe über den Ohren, das sah zum Heulen aus und tat weh.»
«Die Haarschneidprozedur wiederholte sich jedes Jahr, normalerweise zweimal wie der Refrain eines Liedes. Alle kamen dran. Mutter kam mit der Haarschneidmaschine, wir waren viele Kinder. Bald schnitt die Maschine nicht mehr sauber und optimal, es riss und zerrte, Haare wurden zwischen Haarmesser und festen Maschinenteilen eingeklemmt, wir schrien und tobten, Mutter riss der Geduldfaden und wehe dem, der gerade in diesem Moment unter der Maschine war!»
«Während des Sommers auf der Alp war es unmöglich den Läusen zu entkommen. Dort schlief man in lausigen Strohnestern, Hygiene war klein geschrieben. Wenn wir am 18. September von der Alp kamen, mussten wir uns mitten in der Stube auf einen Stuhl setzen. Mutter legte uns eine alte Schürze um die Schultern, und Vater erschien mit der Haarschneidmaschine und rasierte uns kahl – da halfen keine Ausflüchte. Mutter liess uns noch eine Nachbehandlung mit Petrol angedeihen.»
«Schatz gehoben. Brunners Kinderporträts nehmen in der Schweizer Fotogeschichte eine Sonderstellung ein.» Neue Zürcher Zeitung
«Die Kinderporträts suchen ihresgleichen in der Schweizer Fotografie des 20. Jahrhunderts.» Basler Magazin
«Emil Brunner zeigt mit seinen Bergkindern starke Persönlichkeiten. Sie begegnen der Kamera stoisch mit unverwandtem Blick, mit deutlicher Scheu, unverhohlenem Misstrauen oder Verschmitztheit und Selbstvertrauen. Ihre Blicke und Gesten rühren ans Herz.» NZZ am Sonntag
«Was für wunderbare Kindergesichter! Eine phänomenale Arbeit.» Süddeutsche Zeitung
«Brunners Sammlung ist in ihrem Umfang, in der zeitlichen und geografischen Geschlossenheit sowie in ihrer ästhetischen Konsequenz einzigartig.» Photographie
«Die Gesichter sprechen Bände in ihrer Offenheit oder Verstocktheit, ihrer vorsichtigen Zurückhaltung, Fröhlichkeit oder Traurigkeit. Die Bilder werden durch die spannende Textcollage hervorragend ergänzt.» Tages-Anzeiger
«Die Kinderporträts stellen ein eindrückliches Zeitdokument dar, in dem sich das einfache und karge Leben der Zeit spiegelt.» WoZ
«‹Tausend Blicke› sagen mehr als tausend Worte.» Schweizer Illustrierte
«Brunners Kinderporträts lassen den Betrachter alles andere als kalt.» Die Südostschweiz
«Eine Trouvaille.» SonntagsBlick
«Die unprätentiösen Aufnahmen von 1943/44 lassen eine Intensität und Wärme spüren, die den Leser im Verbund mit den Kindheitserinnerungen der Dargestellten von der ersten bis zur letzten Seite gefangen hält. Der begleitende Materialband mit der gesamten Serie lässt einen selten gewährten Einblick in ein Fotografenarchiv zu und verrät so ein wenig von der Arbeitsweise des Fotografen. Die in den Sorgfältig gedruckten und gestalteten Editionen erfolgte Offenlegung des Gesamtwerks geht zum Glück nicht so weit, dass die Kinderbilder etwas von ihrer magischen Präsenz verlören.» Kasseler Forum
«Porträts, die in ihrer photographischen Gestaltung und thematischen Konsequenz sowohl in seinem Werk als auch in der Schweizer Photographie einzigartig sind.» NZZ am Sonntag
«Emil Brunner bringt die individuelle, familiäre und regionale Modellierung der Kindergesichter, aber auch die Spuren des harten Alltags eindrucksvoll zur Geltun.» quucy.com
Bilder aus diesem Buch sind auch als Postkarten erschienen.