Alberto Nessi
Die Wohnwagenfrau
Übersetzt von Maja Pflug
August 1998
978-3-85791-317-4
Tosca, ein Tessiner Mädchen, träumt schon im Kinderheim von der Liebe und der Musik. In Zürich, wo sie als Dienstmädchen zu arbeiten beginnt, nimmt sie abends Gesangsstunden am Konservatorium. Aber die Oper ist sehr weit weg für eine junge Frau mit der falschen Herkunft. Und die Liebe ist schwierig für eine, die unkonventionell liebt. Tosca versucht trotzdem, sich zwischen heimlicher Bewunderung und öffentlicher Ausgrenzung ihren eigenen Weg freizukämpfen.
Alberto Nessi
Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella.
Wie wird man Schriftsteller?
Ein biografischer Bericht von Alberto Nessi
Neue Zürcher Zeitung
© Georg Pflug
Maja Pflug
Geboren in Bad Kissingen, Übersetzerausbildung in München, Florenz und London, übersetzt seit über dreissig Jahren italienische Literatur ins Deutsche, u.a. P.P. Pasolini, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg, Fabrizia Ramondino, Rosetta Loy, Alberto Nessi, Anna Felder, Giovanni Orelli und Anna Ruchat. Als Autorin veröffentlichte sie 1995 «Natalia Ginzburg. Eine Biographie», die auch ins Italienische übersetzt wurde. Sie lebt in München und Rom. Sie wurde 1987 mit dem Premio Montecchio, 1999 mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis und 2007 mit dem Jane Scatcherd-Preis ausgezeichnet. 2011 erhält sie für ihr Lebenswerk den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis.Wohin geht Tosca heute ...
Wohin geht Tosca heute an ihrem freien Tag? Wenn sie das Ohr an das Geländer der Seeuferpromenade legt, trägt ihr der Wind die Geräusche des Lebens zu: Der Stiefvater summt ein Lied und klimpert dazu auf der Gitarre, zu einer anderen Musik, der des Wischlappens, putzt die Mutter im Haus fremder Leute die Fenster, die Nonnen huschen durch die Gänge, im Samt eines Kinosaals sagt das Mädchen vom Land glückliche Worte, die Möwen kreischen über den Wellen.Nun verläßt sie das Zentrum in Richtung Vorstadt, angezogen von den windgezausten grasbewachsenen Grundstücken, wo sich immer etwas zu verstecken scheint, das es zu entdecken gilt.Während sie zwischen abseits liegenden Villen herumspaziert, hört sie eine Stimme, die ihren Schritt stocken läßt. Die Stimme dringt aus einem gelben Haus mit Kirschlorbeer im Garten, Lanzenspitzen am Gittertor und einer von kleinen Säulen getragenen Terrasse. Hoch vibriert sie in der Luft, höher als die Stimmen, die Tosca im von Mentlen gehört hat, wo sie sich von den Toten befreite, indem sie in der Kirche sang, und wo sie zum ersten Mal das Gefühl hatte, daß die Schlacken des Alltags von ihr abfielen.
Sie schlüpft durch das halboffene Tor. Auf dem Kies stehen steinerne Stühle, als warteten sie auf jemanden. Sie nähert sich, und ihr ist, als öffnete sich ein Vorhang: Am Fenster im Erdgeschoß singt eine große Frau mit toupierten Haaren eine Romanze und begleitet sich am Klavier. Die Vögel im immergrünen Gezweig schweigen verstört.
Casta diva che inargenti
queste sacre antiche piante
a noi volgi il bel sembiante
senza nube e senza vel …
Im Auf und Ab der Klangwelle erfaßt sie vereinzelte Worte.
Was ist denn ein sembiante? Und die Diva: so eine wie Grace Kelly?
Von da an geht das Mädchen oft bis zum gelben Haus, um der Welle jener neuen Stimme zu lauschen, die in ihr Platz genommen und ein Repertoire bereichert hat, das von Kyrie Eleison und Mira il tuo popolo bis Grazie dei fior reicht, ohne das Pfeifen des jungen Burschen unter dem Kornelkirschenstrauch zu vergessen, eine kleine Melodie, die in Momenten der Leichtigkeit wiedererwacht. Und jetzt diese diva chinar genti …
Einmal will sie mit Miria hingehen, um die Sängerin zu beobachten, die bogenförmige, mit dem Stift nachgezogene Augenbrauen hat. Schweigend spähen sie hinter den kleinen Säulen hervor, und Miria preßt sich die Hand auf den Mund, um nicht loszulachen.
«Ich weiß nicht, was du daran findest», sagt sie dann, während sie Arm in Arm mit der Freundin nach Hause geht.
«Es ist eine Stimme, die sich von der Erde loslöst, sie trägt mich davon.»
«Ich muß lachen, wenn ich sie höre. Es ist nicht natürlich, so zu singen. Und außerdem versteht man nichts.»
«Was heißt denn natürlich?»
Miria versetzt einer Dose auf der Straße Fußtritte, bricht ein Zweiglein von einem Strauch ab und reicht es der Freundin: «Hier ist dein Lorbeerkranz. Ich kröne dich zur Königin der Sängerinnen.»
Dann stiehlt sie im Vorbeigehen beim Obsthändler zwei grüne Äpfel aus den auf dem Bürgersteig ausgestellten Kisten; und mit ihren jungen Zähnen hineinbeißend schlendern die Mädchen davon.
Aargauer Zeitung, 05. September 1998
Neue Zürcher Zeitung, 12. September 1998
Neue Luzerner Zeitung, 23. September 1998
WOZ, 01. Oktober 1998
Die Weltwoche, 01. Oktober 1998
Der Bund, 17. Oktober 1998
Die Presse, 31. Oktober 1998
Der Landbote, 12. Februar 1999
SFD, 15. Februar 1999
St. Galler Tagblatt, 29. Mai 1999
Anzeiger, 07. Juni 2017
«Alberto Nessi erzählt diese Lebensgeschichte still, wie es seine Art ist, mit grosser Wärme und unverkennbarer Sympathie. Er gibt nicht vor, alles zu wissen, integriert dokumentarische Blöcke in den Erzählfluss: Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, eindliche Stimmen der Dorfbewohner, die sich über die Ermordete äussern.» Erich Hackl, Die Presse
«Voll von poetischem Glanz, kraftvoll und bildhaft.» Neue Luzerner Zeitung
«Ein Menschenporträt mit lebensvollen Zügen und vielfältigen, fesselnden Schattierungen.» Der Bund
«Nessis Erzähltechnik ist die des Schnitt, und gelegentlich entwickelt diese knappe, genaue, unprätentiöse und unsentimentale Prosa gerade dadurch einen mächtigen Sog hin zu dem, was ausserhalb von ihr liegt: das Geheimnis, das Verhängnis, das auch hinter diesem Scheitern waltet.» Die Weltwoche
«Alberto Nessi erzählt diese Geschichte in Bildern, in schönen, bleibenden und schmerzenden Bildern. So lyrisch seine Sätze sein können, so ökonomisch er sie einsetzt, so treffend und unausweichlich vermitteln sie viel Welt auf wenig Seiten.
Die Geschichte der Wohnwagenfrau Tosca basiere auf einer wahren Begebenheit, die Personen aber seien Figuren der Phantasie, heisst es vorne in dem tadellos aus dem Italienischen übersetzten Buch. Sei es in den hervorragend montierten Selbstzeugnissen, in Briefen oder in der erzählenden Prosa, immer ist ‹Die Wohnwagenfrau› wirklicher und damit berührender als die Wirklichkeit.» Beat Sterchi, SFD