Leo Tuor
Giacumbert Nau
Cudisch e remarcas da sia veta menada / Bemerkungen zu seinem Leben
Übersetzt von Peter Egloff
Februar 2012
978-3-85791-679-3
Der zornige Hirte
'Giacumbert Nau' ist ein Hirtenroman ohne Idylle. Sein Bett ist zu kurz, der Bach hat keinen Steg. Giacumbert flickt das Fenster mit Plastik und verflucht die Gemeinde, die Bauern. Giacumbert freut sich an der Prozession der Schafe und schimpft auf den Schafstrott der Menschen. Giacumbert liebt die Natur, den tröstlich-behäbigen Coroi, die rauschenden Bäche. Und er hat zu kämpfen mit ihr. Das Gewitter wütet im Fels, aus dem Greina-Nebel tauchen böse Bilder auf. Trotzig einsam ist Giacumbert. Er hütet die Tiere und krault seinen Hund, die kluge Diabola. Erinnerungen suchen ihn heim an Albertina mit ihrem dunkelgelben Duft nach Safran, deren Haut bitter schmeckt wie das Salz der Erde, die einen anderen geheiratet hat. 'Giacumbert Nau' ist ein Buch voller Poesie und Kraft, Wut und Zärtlichkeit – und ein Gesang auf das Liebespaar Giacumbert und Albertina.
Leo Tuor
Leo Tuor, geboren 1959, wuchs in Rabius und Disentis auf, wo er die Schule im Benediktiner-Kloster besuchte und 1979 mit der Matura B abschloss. Anschliessend studierte er Philosophie, Geschichte und Literatur in Zürich, Fribourg und Berlin. Während des Studiums war er Redaktor der streitbaren rätoromanischen Zeitschrift «la Talina».
Leo Tuor schreibt Erzählungen, Essays, Kolumnen, Kurzgeschichten und Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. Daneben arbeitet er für Radio und Fernsehen. Viele Jahre verbrachte er den Sommer als Schafhirt auf der Greina und den Herbst als Jäger auf Carpet. Als sein Hauptwerk kann die Surselver Trilogie «Giacumbert Nau» (1988), «Onna Maria Tumera» (2002), «Settembrini» (2006) bezeichnet werden.
2021 erhielt er den Bündner Kulturpreis. «Wir sind Leo Tuor dankbar für jedes Buch und jedes Wort, denn es fehlte uns alles, wenn nur eines fehlen würde», sagt Roman Bucheli in seiner Laudatio.
Peter Egloff
Peter Egloff, 1950 in Zürich geboren, ist freier Journalist und lebt in Zürich und Sumvitg. Autor und Herausgeber mehrerer Bücher zu Graubünden und zur Surselva, zuletzt «Der Bischof als Druide». Seine Übersetzung von Leo Tuors «Giacumbert Nau» wurde vom Kanton Zürich mit einem Anerkennungspreis ausgezeichnet, die Übersetzung von «Settembrini» war für den Paul-Celan-Übersetzerpreis nominiert.Seregordel. | Ich erinnere mich.
Seregordel.
El era buca grad gronds e buca bia bials. Per esser in
um veva el pauc spatla, sil pèz negina pelegna. Ina
comba era in tec memia cuorta, e perquei enconuschevan
ins el vid igl ir schon tilada naven. (Ir mava el darar
spèrt per esser pastur. Forsa pervia da quella comba,
forsa perquei ch'el veva adina la disa da star eri e
spieghelar.)
In maun fin veva el. Vid il maun seniester vargava mo il
polisch dalla vart ora, tschella detta era naven. Il sulet
bi ch'el veva per mei vidad el eran ses egls, aber ei
duvrava bia tochen ch'el mirava els egls a zatgi, pertgei
el veva pli bugen ils tiers che la glieud. El hassiava la
glieud, surtut quei che veva num «pievel», quella muaglia
tschocca e tuppa aschi leva da dar la direcziun che
prers e politichers levan.
Na, patertgar era buca la fermezia dalla glieud. Ura e
lavura e patratga nuot. Haver lavur e restar tups e
tschintschar adina la medema pustracca da rietscher.
Aschia era la glieud.
Odi, sprez e rir eran sias armas encunter la tuppadad.
La finala ha el stuiu untgir sc' in tier blessau ellas alps
e lu svanir, svanir sco la neiv digl onn vargau. Buca
dumandei nua.
Cardientscha veva el buc, e fidar fidava el mo a siu
tgaun. Inagada che Albertina veva detg ch'ella vegni a
visitar el, veva el manegiau: «Jeu creiel pér cu jeu vesel
tei.» Ed ella sedustond: «Sch'jeu hai detg che jeu vegni,
sche vegn jeu!» El ha mo ris lev, peter. Detg lu (sai buca
sch'el ha detg quei per dir siper Albertina ni plitost
siper sesez): «Sedi ei bu che quels che vivien ellas alps
hagien in'atgna cardientscha?» E vinavon ha el fatg:
«Glauben macht selic und sterben macht steric.»
Schon cun gissiat veva el calau da crer el Diu dils catolics,
il Diu da puccaus e penetienzias che teneva mo
culs prers, perquei ch'els schevan tgei che Dieus ditgi.
Ella verdad ch'ei perdegavan ed ella gestadad veva el
calau da crer ualti spert.
Ed aunc zatgei:
El carteva buca ch'il carstgaun seigi buns.
«Jeu sai ch'jeu sun schliats.»
Quei era ina da sias paucas construcziuns. Il tun da
quels sis plaids fageva freid a mi dil dies giu. Ses egls
bellezia buglievan els mes, ed el scheva:
«È ti sas che ti eis schliats.»
Ed jeu savevel ei.
Sia olma fageva savens mal ad el, gliez sentev'jeu vida
sia vusch. Scarts eran ses plaids, darar construcziuns
entiras. Ins capeva buc adina tgei ch'el scheva, tgei
ch'el manegiava. Jeu hai scret tut sco jeu hai udiu e viu.
Ses plaids ein i en miu saung senza ch'jeu capeschi adina
els. Aber ston ins insumma capir tut adina? Giacumbert
era siu num, e cul medem bustap entschevevan
ils nums da sias pastiras.
Ich erinnere mich.
Er war nicht gerade gross und nicht besonders schön.
Schmale Schultern hatte er für einen Mann, und keine
Haare auf der Brust. Ein Bein war etwas zu kurz,
deshalb erkannte man ihn schon von weitem am Gang.
(Obschon Hirt, ging er selten rasch. Vielleicht wegen
diesem Bein, vielleicht weil er die Gewohnheit hatte,
immer wieder stehenzubleiben, den Feldstecher zu
nehmen und zu spiegeln.)
Eine feine Hand hatte er. An seiner Linken waren aber,
bis auf den Daumen, alle Finger ab. Für mich war
eigentlich nur etwas an ihm schön: die Augen. Es
brauchte jedoch viel, bis er jemandem in die Augen
schaute, denn er hatte die Tiere lieber als die Leute. Er
hasste die Leute, und ganz besonders hasste er, was
man «Volk» zu nennen pflegt, diese blinde, blöde Herde,
die sich so leicht in die Richtung dirigieren lässt, die
den Pfaffen und Politikern behagt.
Nein, Denken ist nicht die Stärke der Leute. Ora et
labora und denk nichts. Arbeit haben und dumm bleiben
und den immergleichen Brei bis zum Erbrechen
wiederkäuen: So sind die Leute.
Hass, Hohn und Gelächter waren seine Waffen gegen
die Dummheit. Schliesslich aber musste er wie ein verletztes
Tier in die Berge weichen und dann verschwinden,
verschwinden wie der Schnee vom letzten Jahr.
Fragt nicht wohin.
Glauben hatte er keinen, und er vertraute nur seinem
Hund. Als Albertina einmal sagte, dass sie ihn besuchen
komme, meinte er: «Ich glaube es erst, wenn ich dich
sehe.» Sie wehrte sich: «Wenn ich sage, ich komme, dann
komme ich!» Er hatte nur leise und bitter gelacht und
dann gesagt (zu Albertina? zu sich? – ich weiss es nicht):
«Heisst es nicht, dass die, die auf den Alpen leben,
einen eigenen Glauben haben?» Und noch hinzugefügt:
«Glauben macht selig, und Sterben macht steif.»
Bereits mit siebzehn hatte er aufgehört, an den Gott der
Katholiken zu glauben, den Gott der Sünden und der
Beichtstühle, der immer zu den Pfaffen hielt, weil die
Pfaffen sagten, was Gott sage. Früh hatte er aufgehört,
an gepredigte Wahrheiten und an die Gerechtigkeit zu
glauben.
Und noch etwas:
Er glaubte nicht, dass der Mensch gut sei.
«Ich weiss, dass ich schlecht bin.»
Das war einer seiner seltenen Sätze. Der Klang der
sechs Wörter liess mich schaudern, und seine wunderschönen
Augen glühten in meinen, als er hinzufügte:
«Auch du weisst, dass du schlecht bist.»
Da wusste ich es.
Seine Seele schmerzte ihn oft, das verriet mir seine
Stimme. Karg waren seine Worte, kaum jemals ganze
Sätze. Man verstand nicht immer, was er sagte, was er
meinte. Ich habe alles so aufgeschrieben, wie ich es
gehört und gesehen habe. Seine Worte drangen mir ins
Blut, ohne dass ich sie immer verstanden hätte.
Aber muss man immer alles verstehen? Giacumbert war
sein Name, und denselben Anfangsbuchstaben hatten
die Namen seiner Weiden.
Strapazin Nr. 107, Juni 2012
Transhelvetica, Newsletter, Juli 2012
Piz, Ausgabe Sommer 2012 (Buchtipp)
Newsletter Literaturkurier, 12. Juli 2012
Club-Ticket, August 2012
Heinrich Boxler, Literaturvermittler, September 2012
Neue Zürcher Zeitung, 25. September 2012
Terra Grischun 5/2012
Rieherner Zeitung, 12. April 2013
«Auch ‹Giacumbert Nau› hat seine Wandlungen erfahren, und gerade daran erweist sich seine ungeheure und ungebrochene Wucht. Das Buch mag wohl aus einem Geist der politischen Rebellion heraus entstanden sein, doch hat es sich seine Sprengkraft auch über den unmittelbaren Anlass hinaus bewahrt. In der Poesie bleibt sie virulent, in den kraftvollen Bildern und im Zusammenspiel von elegischer Sprachmelodie und wortkarger Zurückhaltung (was noch selbst in der allerdings ingeniösen Übersetzung von Peter Egloff herauszuhören ist). Schmerz und Trauer bestimmen zwar die Tonlage, freilich durchbrochen von stillem Protest und Zorn. Nein, Tuor schreibt keine geglättete Poesie. ‹Giacumbert Nau› ist auch ein Buch Hiob, ist Klage und Anklage in einem.» Neue Zürcher Zeitung
«Auch ‹Giacumbert Nau› hat seine Wandlungen erfahren, und gerade daran erweist sich seine ungeheure und ungebrochene Wucht. Das Buch mag wohl aus einem Geist der politischen Rebellion heraus entstanden sein, doch hat es sich seine Sprengkraft auch über den unmittelbaren Anlass hinaus bewahrt. In der Poesie bleibt sie virulent, in den kraftvollen Bildern und im Zusammenspiel von elegischer Sprachmelodie und wortkarger Zurückhaltung (was noch selbst in der allerdings ingeniösen Übersetzung von Peter Egloff herauszuhören ist). Schmerz und Trauer bestimmen zwar die Tonlage, freilich durchbrochen von stillem Protest und Zorn. Nein, Tuor schreibt keine geglättete Poesie. ‹Giacumbert Nau› ist auch ein Buch Hiob, ist Klage und Anklage in einem.» Neue Zürcher Zeitung
«Souverän arbeitet Tuor mit den Urmotiven seines Genres: Wildnis und Fortschritt, Sesshafte und Hirten, stolzes Aussenseitertum und Einsamkeit, die Unerbittlichkeit der Natur und der Liebe. Doch dazwischen liegen Abgründe, die der Autor nicht schliesst, und damit den für Berggeschichten mächtigsten Archetypus baut: das Geheimnis, das sich niemals klärt. Den Raum, aus dem früher die Sagen herabstiegen. Je genauer er die wenigen Begebenheiten einfängt, umso grösser wird das Ahnungsvolle, das dieses Buch trägt. Ein Buch, das auch ein Sog sein könnte.» Literarischer Monat
«Gestützt auf eigene Erfahrungen als Alphirt ist es Leo Tuor gelungen, sich in das Wesen eines Schafhirten hineinzudenken. Er schildert nicht nur die Gefühle Giacumberts, sondern lässt ihm Bruchstücke aus Alpsatzungen und Katechismus, Schriftstellerzitate und Gedichte durch den Kopf gehen. Nie verrät er seine Figur, sondern lässt die Lesenden nachempfinden, welchen reichen Schatz an Alltags- und Lebenserfahrungen sich Giacumbert im Lauf seines Hirtenlebens angeeignet hat.» Heinrich Boxler, Literaturvermittler
«Tuors Buch ist ein Prosapoem, das im Wechsel anschaulich berichtet und ins Schweigen verfällt. Mal überkommt es Giacumbert zu erzählen, schimpfen und fluchen, mal hält er demütig inne und lauscht der Leere. Diese Wechselhaftigkeit verleiht dem Buch einen speziellen Zauber.» Der Landbote
«Tuor entgeht durch eine Vielfalt fragmentarischer Ansätze jeder Vereinfachung dieses gar nicht einfachen Lebens eines alles andere als einfachen Menschen. Oft genug beisst er bei Giacumbert auf Granit, aber selbst dabei entlockt er ihm eine Musik, zu deren schönsten Tonarten die Ironie gehört. [...] Die Natur spricht mit vielen Stimmen. Ohne diejenige Giacumberts jedoch, die Tuor ihm verleiht, würden sie nicht hörbar. Und zuletzt auch nicht ohne die Stimme Peter Egloffs, dem eine deutsche Übersetzung gelingt, deren Dialog mit dem Original man hier quasi mithören kann.» Neue Zürcher Zeitung