
© Yvonne Böhler
Pierre Chappuis
«Die kleine karge Welt, die er in langen Wanderungen auf abseitigen Pfaden erschloss und mit allen Sinnen auslotete, war ihm gross genug, und sie vergrösserte sich noch dadurch, dass er sie mit immer wieder anderer Optik wahrnahm – im winzigsten Detail, im umgreifenden Panorama, in wechselnder Ausleuchtung und Perspektive. Dieser unscheinbare, von Steinen und Bäumen besetzte, von Insekten und Vögeln bevölkerte, von wechselnden Farben und Geräuschen durchwirkte Mikrokosmos bot ihm ausreichend Anlass für Abenteuer der sublimen Art – für die intensive Lektüre der Natur ebenso wie für deren Übertragung in die Schrift.» Felix Philipp Ingold
Auszeichnungen
Prix de la Société jurassienne d`émulation 1975
Prix Suisse-Canada 1983
Prix de l'Institut neuchâtelois 1997
Prix Schiller 1997
Prix littéraires du canton de Berne 2002 (zusammen mit Jean-Georges Lossier)
Grand Prix Ramuz 2005
Prix Renfer 2013
Bibliografie
Aux Editions José Corti
Moins que glaise, 1990
La preuve par le vide (coll. En lisant en écrivant), 1992
D'un pas suspendu, 1994
Pleines marges, 1997
Le biais des mots (coll. En lisant en écrivant) 1998
Distance aveugle, précédé de L'invisible parole, 2000
A portée de la voix, 2002
Tracés d'incertitude (coll. En lisant en écrivant), 2003
Deux essais : Michel Leiris / André du Bouchet (id.) 2003
Mon murmure, mon souffle, 2005
La rumeur de toutes choses, 2007
Dans la foulée, 2007
Comme un léger sommeil, 2009
Chez d'autres éditeurs
Ma femme ô mon tombeau, Editions Robert, 1969
Décalages, Editions La Dogana, 1982.
Eboulis & autres poèmes, Editions Liasse - A l'Imprimerie Quotidienne, 1984.
Un cahier de nuages, Editions Thierry Bouchard & Le feu de nuict, 1989.
La langue et le politique : enquête auprès de quelques écrivains suisses de langue française, éd., conc. et préf. par Patrick Amstutz, postf. de Daniel Maggetti, Editions de L'Aire, Vevey, 2001. p. 42-44.
Le noir de l'été, La Dogana ; 2002
Le lyrisme de la réalité, entretien avec Sylviane Dupuis, suivi d'études de Claude Dourguin et de Pierre Romnée, La Dogana ; 2003
La nuit des temps ; reliefs de Jean-Edouard Augsburger, J.-E. Augsburger, 2004
Aux Editions Empreintes
Soustrait au temps, 1990
Dans la foulée, 1996
Eboulis & autres poèmes précédé de Soustrait au temps, Préface de Michel Collot, 2005
Nachruf auf Pierre Chappuis von Felix Philipp Ingold
Während vieler Jahrzehnte hat der aus Tavannes (Berner Jura) gebürtige Lyriker und Essayist Pierre Chappuis als beamteter Lehrer seinen Lebensunterhalt bestritten. Die Entscheidung, das literarische Schaffen mit einem bürgerlichen Beruf abzusichern und es damit von ökonomischem Druck freizuhalten, teilte er nicht nur mit manchen andern Schweizer Autoren, sondern auch mit dem französischen Dichterfürsten Stéphane Mallarmé, der zu seinen prägenden Vorbildern gehörte.
Chappuis war knapp 40 Jahre alt, als er 1969 sein erstes Gedichtbuch vorlegte, und es brauchte noch einmal zwei Jahrzehnte, bis er in der Person von José Corti einen adäquaten Verleger fand: Cortis berühmte Pariser Librairie wurde zur verlässlichen Anlaufstelle für mehr als ein Dutzend Lyrik- und Prosabände, die bis in die jüngste Gegenwart mit staunenswerter Regelmässigkeit und in gleichbleibend hoher Qualität erschienen sind.
Biographisch gibt es von Pierre Chappuis kaum etwas zu berichten. Weder hat er sich in der weiten Welt umgetan, noch sich am Literaturbetrieb oder an politischen Debatten beteiligt. Dass er den Grossteil seines Lebens im provinziellen Schuldienst verbracht hat, macht ihn aber keineswegs zu einem wirklichkeitsfernen Stubenhocker und Schöngeist. Die kleine karge Welt, die er in langen Wanderungen auf abseitigen Pfaden erschloss und mit allen Sinnen auslotete, war ihm gross genug, und sie vergrösserte sich noch dadurch, dass er sie mit immer wieder anderer Optik wahrnahm – im winzigsten Detail, im umgreifenden Panorama, in wechselnder Ausleuchtung und Perspektive.
Dieser unscheinbare, von Steinen und Bäumen besetzte, von Insekten und Vögeln bevölkerte, von wechselnden Farben und Geräuschen durchwirkte Mikrokosmos bot ihm ausreichend Anlass für Abenteuer der sublimen Art – für die intensive Lektüre der Natur ebenso wie für deren Übertragung in die Schrift. Man könnte Chappuis’ Sprachkunst mit dem präzisen und dabei höchst erfindungsreichen Handwerk jurassischer Uhrmacher vergleichen. Jedes Rädchen und Schräubchen beziehungsweise jedes Wort, jede rhetorische Figur, jede Assonanz, jedes Interpunktionszeichen – alle Bau- und Funktionselemente des Dichtwerks sind sorgsam ausgearbeitet und variantenreich aufeinander bezogen. Grammatik, Syntax, Phonetik werden hier in gleichem Mass zum Gegenstand der Poesie wie die schlichte Dingwelt, die der Autor vorzugsweise erkundet – heimatliche Landschaften mit Auen, Hügeln, Bächen, Wäldern im Wandel der Tages- und Jahreszeiten.
Chappuis selbst hat sein dichterisches Tun in einem seiner späten poetologischen Notate mit der strengen Arbeit eines Malers vor dem Motiv verglichen: Die Natur entziffern, so wie man es von Cézanne hat sagen können: Ein Verfahren – die Mühe – schichtweiser Demontage und Rekonstruktion, in jedem Augenblick beherrscht von innerer Spannung. «Von Fleck zu Fleck gewinnen wir Anteil am Dialog der Farbe, und nicht weniger auch durch die Leerstellen, welche die blosse Leinwand sehen lassen und jenseits der Vereinzelung ein unerfüllbares Ganzes heraufrufen.» Mit seinen schmalen Lyrikbüchern wie auch mit seinen privaten und poetologischen Aufzeichnungen, die sich nun als imposantes Lebenswerk präsentieren, hat Pierre Chappuis, der am 22. Dezember 2020 im Alter von 90 Jahren in Neuchâtel gestorben ist, auf meisterliche Weise dazu beigetragen, jenes unerfüllbare Ganze ahnbar zu machen – als «verschwiegene Kehrseite» des Schrifttexts.
9. Januar 2020