Giovanni Orelli
Walaceks Traum
Roman
Übersetzt von Maja Pflug
1., Aufl., Oktober 2008
978-3-85791-562-8
«Das vielleicht schönste Buch aus der Schweiz» NZZ
«Der Cupfinal Grasshoppers–Servette unentschieden», ist auf Paul Klees Bild «Alphabet 1» noch zu lesen, und «National-Zeitung». Es handelt sich um das Spiel vom 18. April 1938, in dem der Stürmer Walacek den Sprung in die Schweizer Fussballnationalmannschaft (vorerst) verpasst und beim Länderspiel gegen Portugal im Mai 1938 nicht dabei sein wird. Von hier aus startet Orelli seine Recherche und spinnt den Erinnerungsfaden rückwärts. Er erinnert an grosse, kleine und ganz kleine Persönlichkeiten und springt vom Fussball elegant zu Kunst, Politik und Philosophie. Fiktive Gestalten treffen auf historische Persönlichkeiten und unterhalten sich mit ihnen, vom genannten Klee bis zu Bertrand Russell, vom österreichischen Mittelstürmer Sindelar bis zu Hitler.
© Yvonne Böhler
Giovanni Orelli
Giovanni Orelli (1928–2016) geboren in Bedretto, studierte in Zürich und Mailand und war Lehrer in Lugano. Seine literarische Karriere begann 1965 mit dem Roman «L'anno della valanga/Der lange Winter», welcher mit dem Premio Veillon ausgezeichnet wurde. Neben seinen Publikationen auf Italienisch, zu denen Gedichte, Erzählungen aber auch Literaturkritiken gehören, hinterlässt er auch Übersetzungen im Dialekt des Bedrettotals. Orellis Gesamtwerk wurde 1997 mit dem Gottfried Keller-Preis und 2012 mit dem Grossen Schillerpreis ausgezeichnet. Er zählt bis heute zu den herausragenden Schriftstellern der Schweiz.
«Giovanni Orelli gehört gewiss zu den kühnsten, doch auch zu den heitersten Poeten dieses Landes. Ärmer wäre die italienische Literatur und wären die Literaturen der Schweiz ohne die melancholische Anarchie seiner Gedichte und seiner Prosa.» Neue Zürcher Zeitung
© Georg Pflug
Maja Pflug
Geboren in Bad Kissingen, Übersetzerausbildung in München, Florenz und London, übersetzt seit über dreissig Jahren italienische Literatur ins Deutsche, u.a. P.P. Pasolini, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg, Fabrizia Ramondino, Rosetta Loy, Alberto Nessi, Anna Felder, Giovanni Orelli und Anna Ruchat. Als Autorin veröffentlichte sie 1995 «Natalia Ginzburg. Eine Biographie», die auch ins Italienische übersetzt wurde. Sie lebt in München und Rom. Sie wurde 1987 mit dem Premio Montecchio, 1999 mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis und 2007 mit dem Jane Scatcherd-Preis ausgezeichnet. 2011 erhält sie für ihr Lebenswerk den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis.Doch ihm träumte ...
Doch ihm träumte, ein Mädchen käme von einem Hügelchen rechts vom Feld direkt auf ihn zu, er in der klassischen Position des Halbstürmers soeben zur Unterstützung der Verteidigung leicht zurückgegangen in dem Versuch, den Ball zu übernehmen. Sie kam mit einem Blumenkranz. Es war kein ovaler Kranz wie für den Tag der Beerdigung: Es war einer jener schönen, leichten, frischen Kränze, die bei uns nicht Sitte sind, die aber die Jamaikanerinnen einem Ehrengast um den Hals hängen, einem großen Mann, einem Star. Er beugte sich hinunter, damit das Mädchen ihn mühelos bekränzen konnte. Der Kranz schnitt ihn entzwei, Wala hier, cek da. Der Maler aus Bern hat das Mädchen nicht mit ins Bild genommen, aber das Mädchen ist da, ganz lebendig. Vielleicht ist es die jüngere Schwester oder die Cousine derjenigen, von der Pindar spricht, die fest entschlossen ist, für ihren Helden die Zügel der Jungfräulichkeit zu lockern.Dann bemerkte Walacek, dass es eigentlich kein Kranz war, sondern eine breite Schärpe, ein «ruban vert», das diagonal über die Brust verläuft, das noch immer bei bestimmten Wettbewerben üblich ist, das man den schönsten Körpern der schönsten Frauen der Welt umlegt: Danach kehrte er zu dem Kreis in der Mitte des Feldes zurück, gerade noch rechtzeitig, um einem hohen Ball zu folgen, der direkt auf ihn zuflog. Er übernahm ihn mit jener «Sophia», die einen Griechen entzückt hätte, und entledigte sich mit kurzem Dribbling, indem er tat, als wiche er zurück, eines Gegners: Er war auf derselben Linie, in der Diagonale wie ein Läufer, der König oder Königin in Schach hält. Walacek erhob sich also mit der Majestät des Königs auf Klees Überschach von 1937.
Dann wandte er sich um.
Er drehte sich um wie Klees Flüchtling, der zurückblickt, um zu betrachten, was es 1939 zu betrachten gab. Weiter dribbelnd bewegte er sich rasch auf den gegnerischen Strafraum zu, wo er den Auflauf freundschaftlicher und gegnerischer Trikots sah und hörte. Im Vorwärtsstürmen muss man alles im Auge behalten, wie es ein Dichter tut, ein Maler, ein Komponist: von der ersten bis zur letzten Silbe, von Weiß bis Schwarz, von der ersten bis zur letzten Note. Klees O war nur der Beginn seines Flehens, seines Traums: Oh Beine, Beine lauft! Oh Jamben, Jamben lauft! Gelb, wenn ihr wollt, wie bei van Gogh, blau wie bei Vermeer, schwarz wie bei Rembrandt und bei Klee. Im Rhythmus von Anapästen, wenn ihr wollt, oder im falschen Dreivierteltakt eines Strawinsky, der bei Pergolesi «klaut». Er würde so tun, als laufe er auf die Seitenlinie, auf die Ecke zu, würde die fließende Bewegung der Weide, der Erle, der Reiherflügel in der Luft, im Wind nachahmen, wie Seide, die Hüften schwerelos. Verwirrt, Beine, den Verstand der Verteidiger-Bluthunde, der schlächtergleichen Mittelfeldspieler, werft sie um mit eurem hinkenden Rhythmus, begünstigt Fantasie und Erfindungskraft, um alle Hauptquartiere aus der Fassung zu bringen, die Tyrannen, taub und stumm für das Leben, das Leben. Auch ein Halbstürmer muss wie ein Tänzer die Rhythmen des Körpers freisetzen, den er in Freiheit und Disziplin geduldig trainiert hat. Wenn nach deiner Vorlage der Flügel die Seitenlinie entlangläuft, den Ball kontrolliert und dann hart in den Sechzehnmeter-Raum spielt, kommst du: Es ist die weiße Farbe des Wunders: Steig senkrecht empor, versuch dich dort oben zu halten, so lange du kannst. Dann, ohne je die Flugbahn des Balls aus den Augen zu lassen, mathematisch im Geist den unendlich kleinen Bruchteil der Zeit berechnend, dreh den Kopf nach links: mit gestrecktem Hals. Einen Augenblick lang wirst du in der Schwebe leben müssen wie die Wunderheiligen, in einer Art Überwindung, wie sie sagen, der physikalischen Gesetze, indem du sie in vollkommener Sublimierung deiner selbst übertrittst, in Ekstase. Wenn der Ball dir in seinem Flug tangential ganz nah ist, wird sich die ganze Ekstase in Muskelenergie umwandeln, in Impuls für Hals und Wirbelsäule. Der Kopf wird sich mit Gewalt und Präzision zwischen sechzig und neunzig Grad drehen und mit der rechten Schläfe zuschlagen, als wäre sie die Spitze eines Dreiecks, die anderen Spitzen wären Georges Aebys Fuß und die obere Ecke links vom Torwart: Wenn das Ereignis seine Epiphanie haben wird.
Neue Zürcher Zeitung, 15. September 2015
Neue Zürcher Zeitung, 5. Dezember 2016
Woz, 8. Dezember 2016
Neue Zürcher Zeitung, 20. Juli 2018
«Orellis ergreifendstes, berührendstes Buch, das schönste Buch überhaupt das ich aus der Schweiz kenne. Man müsste und könnte es immer wieder lesen. Weil es unerschöpflich ist. Weil es ein Buch über alles ist. Weil es so schwierig ist wie selten ein Buch und zugleich so leicht wie kaum eines.» Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung
«Giovanni Orelli hat in diesem Buch mit der Hingabe des Poeten und der Trauer des Überlebenden ein Requiem auf die Toten seines Jahrhunderts geschrieben: auf die vier im KZ ermordeten Schwestern Sigmund Freuds, auf Joseph Roth, Ossip Mandelstam und Marina Zwetajewa, auf die Mutter Orellis und die Tochter von Walaceks Trainer, vor allem jedoch auf den österreichischen Fussballer Matthias Sindelar, den ‹Mozart des Fussballs› und Mitglied des sogenannten Wunderteams. Beim Anschluss Österreichs an Deutschland hatte er sich umgebracht. Nun geistert er durch Orellis Buch und öffnet in seiner Küche immer wieder den Gashahn.» Neue Zürcher Zeitung
«Das seit langem wohl sonderbarste und ergreifendste Buch der Schweizer Literatur: Orelli hat mit dem Buch ein brillantes Stück subversivstaatstragender Literatur geschrieben. Es ist eine Liebeserklärung an das Land und seine Leute (vornehmlich die einfachen Menschen abgelegener Dörfer) und eine aufwühlende Reflexion auf die dunklen Regionen seiner Geschichte.
Obwohl kein linearer roter Faden, sondern ein nach allen Seiten offenes Assoziationsgeflecht das Ganze zusammenhält, präsentiert sich einem das Buch wie eine spannende historische Entdeckungsreise voller Überraschungen und wunderbaren, teils berührenden, teils unterhaltsamen Höhepunkten. So ist die Überführung von Klees Aschenurne von Lugano nach Minusio zwischen den Knien einer ahnungslosen jungen Tessinerin allein schon ein Kabinettstück erster Ordnung, während die Schilderung des widerrechtlichen Grenzübertritts von vier italienischen weiblichen Jungrindern am 30. Mai 1983 bei Pedrinate TI einein seiner Absurdität kaum mehr zu übertreffende Satire auf die schweizerische Fremdenpolitik darstellt und die Geschichte, wie Walacek bei seinem Trainer übernachtet und dabei ein Auge auf dessen Tochter wirft, die ganze Raffinesse von Orellis assoziativer Imaginationskraft auf wunderbar poetische Weise zum Tragen bringt.» Der Bund
«‹Walaceks Traum› ist ein aussergewöhnliches Buch. Ein ungewöhnliches, rätselhaftes, schwieriges und auf seine Weise wunderbares Buch. Es ähnelt mehr einer musikalischen Partitur als einem Roman. Orelli entwirft ein schillerndes Assoziationsgewebe voller Brechungen.» DeutschlandRadio Kultur
«Ein literarisches Fussballvergnügen.» Ticket Buchversand
«Mit dem Roman ‹Walaceks Traum› fand Orelli zu seiner wahren Meisterschaft. Nun verband sich Poesie mit aufklärerischem Gestus, nun kam das erzählerische Temperament mit der Fabulierlust des begnadeten Causeurs zusammen, nur wurde er elegisch und pathetisch wie nie zuvor.» Neue Zürcher Zeitung
«Ein raffiniertes, kühnes Buch über die Schweiz, über Paul Klee und dessen Bild von Genia Walacek, dem Genfer Fussballer mit Migrationshintergrund. Ein Buch über die Opfer der Geschichte, gegen das Vergessen.» Woz