Terra matta
Alberto Nessi

Terra matta

Drei Erzählungen

Übersetzt von Karin Reiner / Mit einem Nachwort von Fabio Soldini

192 Seiten, 3 Abb., gebunden mit Schutzumschlag
2., Aufl., August 2005
SFr. 29.80, 29.80 € / eBook sFr. 19.90
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978-3-85791-494-2

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In kurzen pointierten Anekdoten und Episoden, wie man sie sich abends in der Runde erzählt, wenn die Rede auf interessante Figuren oder spannende Ereignisse der Region kommt, welche jeder einheimische kennt, berichtet Nessi vom traurigen Leben und wilden Aufbegehren des Tonio Boldini, der für die Republikaner in den Spanischen Bürgerkrieg ging; berichtet er von den harten Handarbeiten in dem Tabakmanufakturen des frühen 20. Jahrhunderts, wie die Frauen zwar zart mit den kostbaren Tabakblättern umgehen konnten, in ihren Streiks aber auch entschlossen mit den Padroni umzugehen wussten; berichtet er von den Hungersnöten Mitte des 19. Jahrhunderts, und wie 300 Mann unter der Führung des Mattirolo aus den Tälern in die Ebene stiegen, um die Lagerhäuser den Armen zu öffnen. Diese Erzählungen sind Poesie, so dicht und farbig diese nur sein kann, und Geschichte, so hart und lehrreich jene für das einfache Volk ja war.

Alberto Nessi

Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella.

Wie wird man Schriftsteller?
Ein biografischer Bericht von Alberto Nessi
Neue Zürcher Zeitung

 

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Terra matta
Die Tabakmanufaktur
Tonio

Teilnehmendes Erzählen
Nachwort von Fabio Soldini

Terra matta

Im Jahre 1843 fiel Mariä Heimsuchung auf einen Sonntag. Es wurde ein grosses Fest. Nachdem sie die ersten Glocken losgebunden hatten, die Maultiere und Esel aus Moltrasio, Cernobbio, Rovenna und Piazza Santo Stefano bepackt waren, verliessen die Teilnehmer der Prozession ihre Dörfer auf Wegen, die zu dieser Stunde und Anfang Juli noch ganz finster waren.

In der Morgendämmerung begannen die Figuren deutlicher Gestalt anzunehmen: die Kapuzen rot und weiss die Kutten der Amtsbrüder, leichter trug sich der Baumwollstoff auf den Schultern der jungen Mädchen, aus den geblümten Kopftüchern tauchten die Gesichter der Bäuerinnen hervor. Der Vollmond und die Sterne, die noch am Himmel verharrten, kündigten eine schöne Kirch-weih an.

Als die Vögel die Stille der Berge über dem Comer See brachen, fing auch der Pfarrer inmitten laubiger Zweige zu psalmodieren an. Die Gesänge waren jedoch matt und erlaubten jedem, seine persönlichen Angelegenheiten zu überdenken, die, aus den Nebelschleiern des Schlafes aufgestiegen, sich mit all ihren frischen Wunden den Blicken darboten.

Man konnte die Bauern sehen, die an der pellagra litten, da sie nur Polenta, Kastanien, Kleiebrot, Gersten- und Hirse-suppe, die mit Nussöl gewürzt war, zu essen hatten; die Papiermacher aus Piazza und Maslianico, die Tag für Tag in den Betrieben entlang der Breggia mit Lumpen hantierten und nun ihre Klarinetten und Flügelhörner an die Lippen setzten, die Coconwäscherinnen, Aufputzerinnen und die Anreisserinnen, die ihre grobe Arbeitsschürze gegen eine bestickte Festtagsschürze eingetauscht hatten.

Das Licht der Morgensonne fiel weniger auf Lucias von bescheidener Schönheit als auf Mädchen, die abgearbeitet und mitgenommen waren von den langen Stunden, die sie in der Spinnerei beim Haspeln und beim Einheizen des Ofens zugebracht hatten. Unter ihnen waren Mädchen, deren Los es war, vorzeitig zu altern, um den Seidenherren zu ermöglichen, sich ihre Landhäuser in der Brianza zu halten, Kinder, die in den Spinnereien mit ihren feinen -Fingerchen die Seidenfäden wieder verknüpften und die manchmal mit dem Gewicht ihres Körpers nachhalfen, dass sich die Spulmaschine drehte.

Auch auf Schweizer Seite stieg man den Monte Bisbino hinauf, mit Umhängetaschen, Armkörben, Tragkörben, grossen und kleinen Flaschen. Mitten unter den Kindern, die schon recht lärmten, schritt ein Maultier mit einem Fass Wein auf dem Rücken.

Einige waren bereits kurz nach Mitternacht aufgebrochen, um den Sonnenaufgang zu sehen, ihre Sünden zu beichten und in der Wallfahrtskirche einen Platz zu ergattern ÿ denn, fällt Kirchweih auf einen Sonntag, gibt es so viele Leute, dass man meinen könnte, man sei am Gründonnerstag in Como, um das Kruzifix in der Kirche der Annunciata zu küssen.

Zwischen den Buchen, Eichen und Kastanien hindurch sah man im ersten Tageslicht die Gewänder der Pfarrer vorbeiziehen, die Barchentkleider der Bauern, die Samtkittel und die blumenbestickten Gilets der Burschen, die Schleier und die Röcke der Frauen und die kurzen Hosen der Buben. Sie kamen von Sagno, Morbio, Vacallo, Mendrisio, Caneggio und aus anderen Dörfern des Mendrisiotto.

Nachdem sie aus dem schattigen Dunkel des Waldes hinaus auf die grasbewachsenen Kuppen gelangt waren, hielten sie inne, um die Wallfahrtskirche auf der Höhe zu bewundern. Sie war wie eine kleine Festung umschlossen von einer mächtigen Mauer, diese Stätte der Wundertätigkeit, die der Blitz vor zwanzig Jahren als Zielscheibe benutzt hatte, wobei er einen Jagdhund verkohlen, siebenundzwanzig Wallfahrer, beschützt durch die Heilige Maria vom Bisbino, jedoch unversehrt liess.

Die Breva, die aus der Ebene heraufblies, fegte über die lange gewellte Kruppe der Rücken hinweg, liess die Filzhüte und die Mützen der Männer fliegen. Sie standen eng in einer Gruppe zusammen, um mit ein paar Pfarrherren zu diskutieren, die sich Heuschrecken von der Soutane schüttelten unter den Eschen mit ihrem bedrohlichen Laubwerk und den Vogelbeerbäumen, deren rote Trauben sich bewegten. Augen und Schnurrbärte glänzten in der Morgensonne.

(...)
Berliner Literaturkritik, 1. Dezember 2005
Neue Zürcher Zeitung, 1. Dezember 2005
LISTEN Online, 13. April 2006
 
Tages-Anzeiger, 18. Juli 1983
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Mai 1983
Der Bund, 25. Juni 1983
WOZ, 27. Mai 1983

«Nessis Erzählungen entwerfen ein anschauliches und dramatisches Bild aus der Tessiner Vergangenheit. Nessi erzählt in einer bewusst nüchternen und knappen Sprache, die sich lieber der Dissonanz als dem Wohllaut überlässt.» Neue Zürcher Zeitung

«Nessis nüchterne Erzählungen sind eine notwendige Erinnerung. Sie führen von der Mitte des letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart, er kennt die alten Geschichten, da er selbst aus der Gegend stammt.» Frankfurter Allgemeine Zeitung

«Mit wachem Blick erzählt Nessi wie im Freundeskreis.» Tages-Anzeiger

«Drei Geschichten führen uns aus der Vergangenheit bis in die heutige Zeit: die eines Sozialbanditen aus der Mitte des l9. Jahrhunderts; die der streikenden Tabakarbeiterinnen zu Anfang unseres Jahrhunderts; die Familiengeschichte eines Sozialisten, die diesen zum Spanienkämpfer werden lässt. Nessi hat mit seinen Geschichten Dokumente erstellt, die in ihrer Direktheit niemanden kalt lassen.» Der Bund

«Dieses schmale Buch wiegt für mich eine Jahresproduktion österreichischer Belletristik auf. Behutsam und verantwortungsvoll gegenüber den historischen Vorlagen erreicht Alberto Nessi in seiner Prosa eine Dichte, eine Farbigkeit, eine epische Breite auch. ‹Terra matta› ist die Kunst des Spurenlesens.» Erich Hackl

«Mit einer knappen, überaus farbigen Sprache und mit starken holzschnittartigen Strichen zeichnet Nessi die Figuren in ihren anekdotisch verkürzten Geschichten.» WOZ