Laure Wyss
Das blaue Kleid
Und andere Geschichten
Januar 1989
978-3-85791-154-5
© Ruth Vögtlin
Laure Wyss
Laure Wyss ist am 20. Juni 1913 in Biel/Bienne geboren und dort in die Schule gegangen. Nach der Matura (1932) Sprachstudium in Paris, Zürich, Berlin. Abschluss in Zürich, Lehrerinnenpatent für Deutsch und Französisch, Heirat. Die Kriegsjahre erlebt sie in Schweden und Davos. Sie übersetzt für den «Evangelischen Verlag», auf Anregung des Leiters Arthur Frey aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen Widerstandsschriften der skandinavischen Kirchen gegen die deutsche Besatzungsmacht.
1945 Scheidung und fortan in Zürich wohnhaft. 1946 –1948 Redaktorin beim «Schweizerischen Evangelischen Pressedienst». 1949 Geburt eines ausserehelichen Kindes und freie Journalistin. 1950—1962 als Redaktorin beim «Luzerner Tagblatt»; 1958—1967 Redaktorin beim Schweizer Fernsehen. Sie gestaltet das erste Programm für Frauen, später die Diskussionssendung «Unter uns». 1962 tritt Laure Wyss in die Redaktion des «Tages-Anzeigers» ein. 1970 Mitbegründerin des «Tages-Anzeiger Magazins». Seit ihrer Pensionierung 1976 als Schriftstellerin und freie Journalistin für Zeitungen und Radio tätig. Für ihre literarische Arbeit wird sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Werkjahr der Max-Frisch-Stiftung, dem Grossen Literaturpreis des Kantons Bern und der Goldenen Ehrenmedaille des Kantons Zürich. Laure Wyss starb am 21. August 2002 in Zürich.
Zur Biografie von Laure Wyss siehe auch:
Barbara Kopp: Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten
Ernst Buchmüller: Laure Wyss. Ein Schreibleben, DVD
Corina Caduff (Hg.): Laure Wyss: Schriftstellerin und Journalistin
Der Knabe fliegt ...
Der Knabe fliegt, ich muss meine Schritte beschleunigen, um immer atemloser zu lesen, was er in den Sand schreibt: «das Meer», «der Sand», «die Muscheln», «die Fische», «die Netze», «die Austern»; dies ein schwieriges Wort, und das Kind mustert mich, ob vielleicht ein Akzent falsch gesetzt sei? Nach den «Hügeln», dem «Himmel» und den «Sternen», der «Sonne» und dem «Mond» fängt das Kind an zu kommentieren. So lese ich, als wir uns dem Ende der Bucht nähern, den kleinen Satz «es ist schade». Wir rufen jetzt den Hund herbei, wir müssen umdrehen, zurückkehren, es ist Zeit. Noch einmal bückt sich das Kind und schreibt, diesmal mit der Hand das Wort «Ende».Aber gleich danach jubelt es: «Jetzt werden wir alles noch einmal lesen, wir werden rückwärts lesen, was ich geschrieben habe, können Sie Wörter lesen, die auf dem Kopf stehen?» Ein paar Schritte zurück, wir lesen «es ist schade», das Kind lacht, aber dann ist nichts mehr zu finden. Keine Schrift im Sand. Das Wasser ist, für uns unmerklich, gestiegen und die Wellen haben unser Buch überspült. Ausgelöscht. Das Kind ist nicht traurig. Es sagt: «Das Meer hat meine Wörter genommen.» Wir suchen nach Schriftspuren, vielleicht ist noch ein Endbuchstabe sichtbar? Das Kind bleibt nun auf meiner Höhe und passt sich meiner Gangart an. Es ist nicht mehr neu-gierig. Ich schlage vor, dass seine Wörter vielleicht mit dem grossen Atlantik nach Amerika gespült werden? Das Kind, mit grosser Gebärde: «weit weg». Ihm ist nichts verloren, es fühlt sich allmächtig, es sagt: «Ich kann meine Wörter auch mit dem Wind schicken. Durch die Luft. Ich kann alles.»
«So klein die Schritte sind, die die Protagonisten(-innen) von Laure Wyss tun, sie zeugen alle von menschlicher Einsicht und vom Mut, den Schritt ins Ungewisse zu wagen, um dort sich selber zu begegnen. So sind diese Geschichten zwar nicht vordergründig kömpferisch, vermitteln keine Moral und keine didaktischen Absichten; hier geht es vielmehr um ein ruhiges, ja distanziertes Betrachten vom Leben, das in jeder von Laure Wyss' Protagonistinnen und in jedem Protagonisten seine eigenwillige Gestalt findet.» Zürcher Oberländer
«Die neun Geschichten der Laure Wyss sind in subtile und schnörkellose Sprache gekleidet, sie stehen ohne moralisierende Absichten im Raum wie die Menschen, von denen in diesem Buch die Rede ist.» Brückenbauer