Grenzfälle
Ina Boesch

Grenzfälle

Von Flucht und Hilfe. Fünf Geschichten aus Europa

280 Seiten, gebunden, 12 Fotos u. 5 Ktn
1., Aufl., August 2008
SFr. 38.50, 38.50 €
vergriffen
978-3-85791-564-2
     

Die Figur des Fluchthelfers weckt Vorstellungen von Abenteuer, Widerstand und Freiheitskampf. Nicht jederzeit und überall galten sie jedoch als Heroen. Je nach Perspektive und politisch-historischem Kontext werden sie zu Kriminellen oder Heldinnen gemacht. Anhand von fünf exemplarischen Lebensgeschichten geht Ina Boesch dem Bedeutungswandel von Fluchthilfe und Fluchthelfern in den letzten siebzig Jahren nach, von den 1930er-Jahren bis heute. Die Autorin fragt nach den Beweggründen, die nicht kommerziell orientierte Fluchthelferinnen und Fluchthelfer zu ihren riskanten illegalen Aktionen verleiten, und nach der Zivilcourage. Indem sie die Figur des Fluchthelfers aktuell wie historisch betrachtet und den Blick auf ganz Europa wagt, weitet sie die gegenwärtige Diskussion um das hochaktuelle Thema Migration aus. Sie hat ausführliche Gespräche geführt sowie die Schauplätze in Tschechien, Deutschland, der Schweiz und Spanien besucht und verbindet Menschen und Orte auf eine überraschende Weise.

Ina Boesch
© Pia Zanetti

Ina Boesch

Ina Boesch, geboren 1955. Historikerin, Ethnologin und Journalistin. Sie arbeitete viele Jahre als Kulturredaktorin bei Schweizer Radio DRS2 und als Dozentin. Zahlreiche Publikationen, unter anderem die Biografie von Margaretha Hardegger, «Gegenleben».

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Am Anfang

Gegen den Wind
Die Fahrten von Nieves García Benito in Tarifa, Spanien (1990–2007)

Unten durch
Die Nachtgänge von Artur Radvanský in der Gegend von Ostrava (ehemals Mährisch-Ostrau), Tschechoslowakei (1939)

Stufe um Stufe
Der Pfad von Anne-Marie Im Hof-Piguet in der Vallée de Joux, Schweiz (1943–1944)

Testen, trimmen, präparieren
Das Unternehmen von Dieter Thieme und Detlef Girrmann in Berlin, Deutschland (1961–1962)

Scharf beobachtete Spaziergänge
Die Wege von Anni Lanz in Basel, Schweiz (1980er- und 1990er-Jahre)

Ein Flüchtling, der ertrinkt, ist ein Flüchtling,der ertrinkt
Variationen zur Fluchthilfe
I Vertrauen, verwandeln, schweigen
Fluchthilfe und Persönlichkeit
II Keine Helden, wahre Haie
Selbst- und Fremdwahrnehmung
III Vom Entkommen zum Ankommen
Die Rolle von Fluchthelferinnen und Fluchthelfern in Europa
IV Widerstand oder Verbrechen?
Fluchthilfe und das moralische Dilemma
V Das Loch im Zaun
Fluchthelfer als Grenzgänger und Fährtenleser

Zum Schluss
Anmerkungen und Literatur

Am Anfang

war die Bemerkung einer Tante. Reina habe während des Krieges Juden versteckt, sagte sie. Die Tante ging davon aus, dass das Mädchen davon wusste, doch es war zu klein und zu scheu, um zu sagen, dass es zum ersten Mal davon hörte. Deshalb fragte es nicht nach, sondern trug die Bemerkung still mit sich herum, bis es allmählich aus der dürren Information eine üppige Geschichte von Rettung und Überleben schuf. Als es älter wurde, las es «Exodus» und «Das Tagebuch der Anne Frank» und stellte sich vor, es selbst sei die bewunderte Anne Frank. Schliesslich wagte es, die Mutter zu fragen. Ach, das haben alle gemacht, erhielt es zur Antwort, und damit hatte es sich. Reina verfiel ins Schweigen, und das Mädchen schwieg mit ihr. Viele Jahre später nahm das Mädchen, nun eine Frau, wieder einen Anlauf – und diesmal begann Reina zu erzählen. – Reina ist meine Mutter.

Als im Mai 1940 deutsche Truppen die Niederlande besetzten, war Reina gerade mal achtzehn Jahre alt. Sie ging gern ins Theater, segelte, hatte Freundinnen und Freunde und bildete sich in Amsterdam zur Physiotherapeutin aus; ihr Leben glich demjenigen Tausender anderer junger Menschen in den Niederlanden, es war gezelleg und entsprach damit einer der holländischen Nationaltugenden. Nach ihrem Studienabschluss zog sie mit ihrer ältesten Schwester in ein stilvolles altes Haus am Wilhelminapark in Haarlem, in dem die Schwester Kinder verarztete und Reina Muskeln stärkte und Rücken streckte. Anfänglich arrangierten sich die beiden Schwestern mit den Folgen des Krieges – statt Kartoffeln kamen Zuckerrüben auf den Tisch, und in den eisig kalten Räumen zogen sie sich einen weiteren Pullover über. Doch bald begannen die Niederlande unter der Besetzung massiv zu leiden. Im Gegensatz zu Frankreich oder Belgien, wo die Wehrmacht herrschte, regierte in den Niederlanden eine zivile Okkupationsmacht, die eine äusserst repressive Besatzungspolitik verfolgte: Die Nationalsozialisten planten, die niederländische Bevölkerung systematisch zu nazifizieren und das Land, einer der wichtigsten Nahrungsmittelexporteure Europas, systematisch auszubeuten. Die Menschen sollen Gras fressen, war ihre Devise. Als im Winter 1944 der grosse Hunger wütete, hatten sie dieses Ziel (fast) erreicht. Da habe sie Blumenzwiebeln gegessen, und zwar rohe Zwiebeln, erzählte Reina, oder sie mit Badesalz gekocht, sofern sie Brennmaterial zum Kochen des Wassers fand.

Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits seit einigen Monaten im Widerstand organisiert. Eine ehemalige Schulkameradin hatte sie gefragt, ob sie allenfalls bereit wäre ... Reina war sofort bereit. Ob sie gar nicht gezögert habe, fragte ich. Keine Sekunde, sagte sie. Der Krieg sei so schlimm gewesen und die Besetzung so erdrückend, dass es für sie selbstverständlich war, gegen die Nazis zu kämpfen. Als Kurier brachte sie geheime Papiere zu geheimnisvollen Adressen, sie kannte weder den Inhalt der Briefumschläge, die sie zu Fuss oder mit dem Fahrrad überbrachte, noch die Menschen, denen sie die Post gab, noch die anderen Mitglieder der Widerstandsgruppe genauer. Sie wusste nur: Da gab es ein Netzwerk; die anderen waren sauber, zumindest hoffte man, sie seien zuiver; und sie tat etwas Sinnvolles. Eines Tages, es war fast unvermeidlich, wurde sie gefragt, ob sie und ihre Schwester in ihrem geräumigen Haus, in dem so viele Leute ein- und ausgingen, wo es also nicht auffallen sollte, wenn noch eine Fremde dazustiess, vielleicht eine Jüdin verstecken könnten. Darauf stand die Todesstrafe, warf ich ein. Das habe sie gewusst, doch das sei ihr egal gewesen, nein, das sei vielleicht zu dick aufgetragen, aber Zweifel, nein, Zweifel habe sie nicht gehabt. Sie beherbergten die Frau auf dem Dachboden, bis sie nach einer Weile anderswo untertauchen konnte. Danach nahmen sie eine junge Psychiatrieschwester auf. Reina und ihre Schwester hatten während des Krieges also zweimal eine Jüdin versteckt. Zu wenige, meinte sie nachdenklich, man hätte viel mehr Juden aufnehmen müssen. Es sei enttäuschend, wie wenig Juden in den Niederlanden vor dem Tod gerettet worden seien. So war das, sagte sie abschliessend und machte eine wegwerfende Handbewegung: Es sei keine Heldentat gewesen.

Diese Geste und die Bemerkung, ach, das war nichts, sollte ich im Verlauf meiner Arbeit an diesem Buch wiederholt sehen und hören. Auch das Schweigen sollte ein immer wiederkehrendes Thema sein, ebenso die Enttäuschung oder Scham, nur wenigen Menschen das Leben gerettet zu haben, genauso wie die Feststellung, man sei da irgendwie hineingerutscht.

Davon ahnte ich nichts, als ich mich auf die Suche nach Menschen machte, die sich wie meine Mutter weigerten, den «Kontrakt der gegenseitigen Gleichgültigkeit» zu unterschreiben, den contract of mutual indifference. Mit diesem Begriff umschreibt der britische Philosoph Norman Geras die Tatsache, dass so viele Menschen grosse Katastrophen wie Holocaust, Folter oder Armut tolerieren, ohne etwas dagegen zu tun. Gleichzeitig konstatiert er – sozusagen als eine gegen den Kontrakt arbeitende moralische Logik – eine Verpflichtung zur Hilfe: Der Umstand, dass Leute sich schämen oder schuldig fühlen, wenn sie Hilfe an andere unterlassen, lässt ihn vermuten und hoffen, dass es tatsächlich so etwas wie eine emotionale Basis für eine Verpflichtung zur Hilfe gibt. Reina ist dieser Verpflichtung nachgekommen, sie hat reagiert statt resigniert und dabei innere Grenzen überwunden.

Die Porträtierten in diesem Buch haben nicht nur innere Grenzen überschritten, sondern auch äussere. Es sind Grenzgänger im wahrsten Sinne des Wortes, die Menschen beim illegalen Grenzübertritt halfen. Was bewegte sie, sich gegen die von Geras beschriebene Gleichgültigkeit aufzulehnen und Grenzen durchlässig zu machen – sei es im Zweiten Weltkrieg, sei es während des Kalten Krieges, sei es in der Gegenwart? Und wie beurteilte die Öffentlichkeit diesen Akt, damals und heute? Diese Fragen begleiteten mich auf meiner Reise durch Europa, die zeitlich in der Aktualität und geografisch in Tarifa an der afrikanisch-europäischen Grenze beginnt.
WochenZeitung WoZ, 19. und 21. August 2008
NZZ am Sonntag, 26. Oktober 2008
Wochenzeitung WoZ, 23. Oktober 2008
Schweizer Zeitschrift zu Integration und Migration, 13/2008
Ticket Buchversand Nr. 31, September 2008
Tages-Anzeiger, 2. Dezember 08
Neue Zürcher Zeitung, 5. Dezember 08
Tagesspiegel, 8. Januar 2009
St. Galler Tagblatt, 28. Januar 2009
Der Bund, 29. Januar 2009
Berner Kulturagenda (Der Bund), 29. Januar und 4. Februar 2009
ekz-Informationsdienst 50/2008
Der Landbote, 4. März 2009
P.S. Bücher, 19. März 2009
Schweizer Monatshefte, Mai/Juni 2009
Neue Wege, Nr. 11/2009, November 2009

«Die journalistisch versierte Boesch beschäftigt sich mit dem weitläufigen Thema teils in Porträts, teils in Interviews. So entstanden fünf Geschichten und ein weit gespannter Bogen, von den nächtlichen Gängen durch die Bergwerkstollen in der Gegend des tschechischen Ostrava im Jahr 1939 bis zur illegalen Einreise von so genannten Boat People ins heutige Spanien.» WochenZeitung WoZ

«In ‹Grenzfälle› werden uns ein paar mutige, eineigennützige Menschen vorgestellt, stellvertretend für viele andere anonyme HelferInnen: ZeitgenossInnen, die sich nicht ärgern, wenn sie von der schweigenden Mehrheit als ‹Gutmenschen› belächelt werden.» WochenZeitung WoZ

«Die Schweizer Ethnologin und Historikerin leistet zur Problematik europäischer Asylpolitik einen überraschenden Beitrag: In einer eigensinnigen Mischung aus Reportage und Interview porträtiert sie Menschen, die sich als Fluchthelfer einsetzen. Sie will wissen, warum sie das tun. Die naiv klingende Frage ‹Warum haben Sie sich als Fluchthelfer betätigt?› lässt sie nicht los, seit ihr die Mutter mit wegwerfender Geste erzählte: ‹Ach, das war nichts›, ‹zu wenige ... man hätte viel mehr Juden aufnehmen müssen›. Warum also gibt es Menschen, für die es selbstverständlich ist, zu helfen, während so viele andere die Grenze der Gleichgültigkeit nicht überschreiten?» Tagesspiegel, Berlin

«Das Schweigen begleitet Flüchtlinge wie Fluchthelfer. Es zu brechen, würde heissen, einander in Gefahr zu bringen, denn beide überschreiten nicht nur Landesgrenzen, sondern auch die Grenzen des Rechts. Über Fluchthilfe und -helfer ist wenig bekannt - oder wenn doch, dann nur aus der Retrospektive, wenn die Fälle verjährt oder die Betroffenen verstorben sind. Ina Boesch legt mit ihren fünf Geschichten über Fluchthilfe von den 19.30-er Jahren bis heute deshalb ein seltenes Zeitdokument vor, weil sie noch lebenden Fluchthelferinnen und Fluchthelfern eine Stimme verleiht.» Neue Zürcher Zeitung

«Ina Boesch hat die Geschichten von Fluchthelferinnen und Fluchthelfern in verdienstvoller Weise umgesetzt.» Tages-Anzeiger

«Indem Ina Boesch die Figur des Fluchthelfers aktuell wie historisch betrachtet und den Blick auf ganz Europa wagt, weitet sie die gegenwärtige Diskussion um das hochaktuelle Thema Migration aus.» Schweizer Zeitschrift zu Integration und Migration

«Das Buch von der Zivilcourage.» St. Galler Tagblatt

«Es sind Geschichten heldenhafter Zivilcourage, denen Ina Boesch in ihrem Buch «Grenzfälle» nachgeht.» ekz Bibliotheksservice

«Ein aktuelles, sorgfältig recherchiertes Buch mit engagierten Kommentaren.» P.S. Bücher

«Dieses Buch bringt wichtige Anstösse, umso wichtiger, als es nicht nur heutige und ganz verschieden gelagerte Fälle sind. Frau Boesch kann nicht nur anschaulich und spannend, sondern auch analytisch schreiben. Dieses Buch wird ein Klassiker und ist ein Muss für alle SozialarbeiterInnen. Hier wurde ein Denkmal gesetzt.» Al Imfeld in Neue Wege
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