Bitterkeit und Tränen
Walter Hauser

Bitterkeit und Tränen

Szenen der Auswanderung aus dem Tal der Linth und die Ausschaffung des heimatlosen Samuel Fässler nach Amerika

160 Seiten, Broschur, zahlr. Ill.
September 2002
SFr. 32.–, 32.– €
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978-3-85791-398-3

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Schlagworte

Auswanderung
     

Dieses Buch erzählt nicht die Geschichte von Helden und ihren Ruhmestaten. Es erzählt die Geschichte der Armen und Erniedrigten, für welche die Auswanderung die letzte Hoffnung war. Ganze Scharen verliessen um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Tal der Linth, um im fernen Amerika ein besseres Los zu finden. In der von Hungersnot und Überbevölkerung geplagten Heimat gab es für sie keinen Platz mehr. Gemeinden zahlten Reisegelder an ausreisewillige Habenichtse, mit denen Menschenhändler, Auswanderungsagenten und Transporteure das grosse Geschäft machten. Die unglücklichen Menschen fuhren über das grosse Meer und erlitten in der Ferne meist ein tragisches Schicksal.

Walter Hauser
© Ursi Schnyder-Mahr

Walter Hauser

Walter Hauser (1957–2022), aufgewachsen im Kanton Glarus. Dr. iur., Ex-Kantonsrichter, langjähriger Redaktor u. a. bei der «Sonntagszeitung» und beim «Sonntagsblick». Gründer und Stiftungsratspräsident der Anna-Göldi-Stiftung, die sich gegen Justiz- und Behördenwillkür engagiert und 2017 das Anna Göldi Museum in Glarus eröffnete.

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Die Ausschaffung des heimatlosen Samuel Fässler und der Tod von Kriminalgerichtspräsident Johannes Trümpi

Im Februar 1851 liess die Glarner Kantonsregierung den achtzehnjährigen Samuel Fässler nach Nordamerika fortschaffen. Obwohl seine Grossmutter und seine Mutter im Kanton Glarus ein Bürgerrecht besassen, war Fässler ein Heimatloser, der von klein auf sein Leben als Bettler und Dieb bestreiten musste. Die Ausschaffung dieses «gemeingefährlichen Individuums» war der traurige Höhepunkt einer Familientragödie, die Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nahm.

Sein aus dem österreichischen Bregenz stammender Grossvater Josef Fässler war, um dem Armeedienst zu entfliehen, 1779 ins Glarnerland gekommen, wo er die Netstalerin Maria Anna Hösli heiratete. Dennoch erfüllte sich sein Traum von einem neuen Lebensglück in der Eidgenossenschaft nicht. Als Deserteur hatte Fässler sein österreichisches Bürgerrecht verloren, und das glarnerische konnte er nicht erwerben, weil er Ausländer war – so wie seine drei Söhne, die alle heimatlos aufwuchsen. Die Familie Fässler musste in den Hungerjahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts Netstal verlassen und wanderte von Ort zu Ort. Doch weil sie auch in anderen Kantonen keine Aufnahme fand, kehrte die Familie immer wieder nach Netstal, dem Heimatort der Mutter, zurück.

Eine Generation später litten die Fässler noch immer unter dem Makel der Heimatlosigkeit. Balthasar Josef Fässler, der 1782 geborene Sohn von Josef Fässler und Maria Anna Hösli, lebte wie schon seine Eltern vom Bettel, um sich und seine Familie durchzubringen. Der von ihm mit Katharina Küng von Kerenzen eingegangenen Beziehung fehlte die gesetzliche Anerkennung, so dass die drei gemeinsam gezeugten Kinder Josef, Elisabeth und Samuel als Uneheliche geboren wurden – als Menschen zwar, doch ohne Recht und Würde. Die Fässler zogen wiederum in der ganzen Schweiz umher, wurden aber überall abgewiesen. Ja, wo sie auch hinkamen, wurden sie verstossen und verfolgt und schliesslich sogar mehrmals mit polizeilicher Gewalt nach Netstal zurückspediert. Auf Druck anderer Kantone wies die Glarner Regierung im Februar 1840 die Gemeinde Netstal an, Vater Balthasar Josef Fässler das Duldungsrecht zu gewähren. Damit durfte er sich in Netstal zwar aufhalten, doch andere Rechte standen ihm und insbesondere seinen Kindern nicht zu. Diese blieben weiterhin heimatlos.

Selbst das Zusammenleben war der Familie nicht gestattet. In Netstal, wo Baltbasar Josef Fässler geduldet war, hatte Katharina Küng kein Bürgerrecht, und ihre Bürgergemeinde Kerenzen wollte Balthasar Josef Fässler als bloss geduldeten Ausländer nicht aufnehmen. Auch um finanzielle Hilfe für den kränkelnden Balthasar Josef Fässler drückten sich die Gemeinden Netstal und Kerenzen und erklärten auf ein Bittschreiben von Sager Jakob Michel, das Bürgergergut sei kein Armenfonds zur Unterstützung verwahrloster Bettler. Doch am schwersten traf es die Fässler-Kinder, die weder in Kerenzen noch in Netstal ein Recht besassen – nicht einmal das Recht, bei ihren Eltern aufwachsen zu dürfen. Josef (geboren 1828), Elisabeth (geboren 1830) und Samuel (geboren 1833) lebten schon als Kinder in Ställen und Höhlen und mussten ihren Lebensunterhalt selbständig bestreiten. Besorgt um das Schicksal ihrer Kinder, unternahmen Vater Balthasar Josef Fässler und Mutter Katharina Küng im Jahr 1840 einen letzten verzweifelten Versuch, ihre gegen die öffentliche Sitte verstossende «wilde» Beziehung kirchlich anerkennen zu lassen. Doch obwohl beide – er katholisch und sie reformiert – bereits über zwanzig Jahre lang miteinander gelebt und gelitten hatten, wies die katholische Kirche ihr Heiratsbegehren erneut ab. Vater Fässler wurde zu verstehen gegeben: «Ein anständiger Katholik schliesst keine Ehe mit einer Ketzerin.»

Der Fall Fässler war kein Einzelfall. Das Heimatlosenproblem war eines der drängendsten Probleme. Es gab in der ganzen Schweiz Tausende solcher Menschen, die kein Bürgerrecht besassen, zumeist weil sie als Uneheliche, als Wilde, zur Welt gekommen waren. Grund dafür waren die Ehe- und Bürgerrechtsbestimmungen, welche die Gemeinden in Zeiten der Not und der Überbevölkerung drastisch verschärft hatten, um sich vor dem Zuzug fremder und unliebsamer Menschen zu schützen. Eheschliessungen eigener Bürger mit Andersgläubigen oder Angehörigen anderer Kantone und Gemeinden suchten sie zu unterbinden. Kinder, welche die Eltern ohne amtlichen Segen gezeugt hatten, wurden nicht als Bürger anerkannt. Die Ausgrenzung und Verfolgung der Heimatlosen nahm in wirtschaftlich schlechten Zeiten besonders hässliche Züge an: Die Kantone und Gemeinden fühlten sich für diese Menschen nicht verantwortlich und liessen diese fortschaffen, damit sie ja nicht Wurzeln fassen konnten. Die Heimatlosen zogen wild umher, ständig auf der Flucht vor der Polizei, die auf «Bettler und Vaganten» Jagd machte. Die Gemeinden verboten jegliche Nachsicht und Gnade ihnen gegenüber, um ja nicht zu riskieren, diese kläglichen Individuen behalten und versorgen zu müssen. Wer heimatlos aufwuchs, war gebrandmarkt - ein Leben lang.

«Ein aufwühlendes Buch über das Leben in der Region vor 150 Jahren: ein faszinierendes Zeitdokument, das überaus spannend zu lesen ist.» March-Anzeiger

«Doch was hier in der Vergangenheitsform stark gekürzt und beispielhaft angeführt wird, liest sich in der zurückhaltenden, fast etwas quellenverhafteten, daher altertümelnden und zudem spürbar heimatverbundenen Sprache des Chronisten Walter Hauser wie eine packende Kampfschrift gegen das soziale Unrecht.» DAZ

«Spannende Lektüre, welche die schönfärberische Geschichtsschreibung jener Zeit in einem völlig anderen Licht erscheinen lässt.» Blick

«Nicht die mächtige Obrigkeit, nicht die rücksichtslosen Fabrikherren der Textilindustrie bilden die Hauptdarsteller in diesem eindrücklichen Report, sondern die sozial Schwachen, die Armen und Erniedrigten, die zu arm oder zu ungebildet (oder beides zusammen) waren, um sich gegen die Ungerechtigkeiten aufzulehnen.» Tages-Anzeiger

«Der Autor vermittelt die präzisen Fakten, erhebt jedoch keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Sein Buch ist flüssig und spannend geschrieben, ohne Sentimentalität, aber doch mit Engagement. Es ist mit alten Stichen und Porträts gut dokumentiert und vor allem sehr nötig. Zuviel Dünkel steht uns Schweizern wirklich nicht an.» Züri Woche

«Walter Hauser schildert diese Kehrseite der Industrialisierung (das Tal der Linth gehörte zu den höchstindustrialisierten Gegenden Europas und erntete dafür grosse Bewunderung) sorgfältig, präzis und bewegend; die im Anhang aufgeführte Literatur zeugt von intensivem Quellenstudium.» NZZ

«‹Bitterkeit und Tränen› ist somit vor allem ein Nacherzählen bereits bekannter Sachverhalte. Hauser tut dies aber anschaulich und lebendig. Hausers Ausbildung zum Juristen befähigt ihn vor allem zu Klarheit und Intensität in der Darstellung und Wertung eines Rechtssystems, das uns heute eher ein Unrechtssystem zu sein scheint.» Luzerner Zeitung

«Dass die ‹Gute alte Zeit› nicht für alle so rosig war, zeigt eindrücklich das schön illustrierte Buch.» Brückenbauer

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