David Streiff, Karl Geiser
Karl Geiser, Fotografien
Herausgegeben von Fotostiftung Schweiz / Mit einem Vorwort von Peter Pfrunder
1., Aufl., März 2007
978-3-85791-531-4
Karl Geiser, einer der bedeutendsten Schweizer Bildhauer des 20. Jahrhunderts, hat neben Skulpturen und Zeichnungen auch Tausende von Fotografien hinterlassen. Sie zeigen einen intensiven und liebevollen Blick auf Menschen, die ihn faszinierten – im Atelier und auf der Strasse. Dabei bediente sich Geiser einer Bildsprache, die heute erstaunlich modern anmutet. In grosser Freiheit und ohne Rücksicht auf fotografische Konventionen schuf er mit der Kamera eine sehr persönliche Chronik seiner Gefühle. Geisers Skulpturen sind heute ein wenig in Vergessenheit geraten. Seine Fotografien zeugen in unverminderter Frische von einer künstlerischen Vision, die uns noch immer tief berührt.
50 Jahre nach Geisers Tod würdigt dieses Buch sein fotografisches Schaffen.
© Raphael Hadad
David Streiff
David Streiff, 1945 geboren, aufgewachsen und wohnhaft in Aathal, Dr. phil., Kunsthistoriker. 1981–1991 Direktor des Filmfestivals in Locarno, 1994–2005 Direktor des Bundesamtes für Kultur.Fotostiftung Schweiz
Die 1971 gegründete Fotostiftung Schweiz ist ein Ort für die Erhaltung, Erforschung und Vermittlung des fotografischen Kulturguts (www.fotostiftung.ch). Neben einer Sammlung von über 50000 Originalabzügen betreut sie die Archive und Nachlässe oder Teilnachlässe von mehr als fünfzig Fotografinnen und Fotografen. Die Fotostiftung Schweiz nimmt, zusammen mit ProLitteris, häufig auch die Urheberrechte wahr. Die aufgenommenen Archive umfassen hunderte bis hunderttausende von Bildeinheiten; sie bestehen aus Negativarchiven, Originalabzügen, Kontaktkopien, Diapositiven, elektronischen Bilddateien, Publikationsbelegen und schriftlichen Dokumenten.© Karl Geiser (Selbstporträt)
Karl Geiser
Karl Geiser (1898–1957), geboren und aufgewachsen in Bern, ab 1922 in Zürich. Bildhauer, Zeichner, Radierer, Fotograf. Seine Hauptwerke: die Figurengruppen vor dem Kirchenfeldgymnasium in Bern, der Löwe am Walchegebäude und das Denkmal der Arbeit in Zürich. Zwischen 1926 und 1939 Aufenthalte in Paris, zwischen 1948–1954 Reisen nach Venedig.Peter Pfrunder
Peter Pfrunder, geboren 1959 in Singapur, aufgewachsen in der Schweiz. Studierte Germanistik, Europäische Volksliteratur und englische Literatur in Zürich, Montpellier und Berlin. 1995 bis 1998 Co-Leiter des Forums der Schweizer Geschichte / Schweizerisches Landesmuseum, Schwyz. Von 1998 bis 2024 Direktor und Kurator der Fotostiftung Schweiz in Winterthur. Lebt in Zug. Zahlreiche Veröffentlichungen und Ausstellungen zur Schweizer Fotografie, u. a. «Theo Frey, Fotografien», «Gotthard Schuh – Eine Art Verliebtheit», «Schweizer Fotobücher 1927 bis heute – Eine andere Geschichte der Fotografie».6 Ein Sonderfall
David Streiff
9 «... une certaine impression de ce qui me semble beau.»
13 Serien und Sequenzen auf Karton
31 Geiser und die Fotografie
38 Die Arbeit des Bildhauers
51 Im Atelier
114 Unterwegs
123 Reisen nach Italien und Frankreich
153 Bilder aus der Schweiz
172 Geiser spricht über die Liebe
180 Die Kunst gehört dem Volk
184 Geisers Comédie humaine
187 Venedig
208 Tod und Nachruhm
210 Der fotografische Nachlass
214 Anmerkungen
217 Übersetzung der fremdsprachigen Zitate
218 Biografische Daten
219 Bibliografie
220 Personenregister
Ein Sonderfall
Karl Geiser – ein Sonderfall in der Schweizerischen Fotolandschaft. Sein fotografisches Schaffen ist darin nicht leicht zu verorten, und der Vergleich mit den Werken seiner fotografierenden Zeitgenossen greift meistens zu kurz. Wer sich durch Geisers Foto-Nachlass tastet, findet zwar immer wieder Bilder, die nach anderen, präsenteren Bildern rufen – man erinnert sich an einzelne Aufnahmen von Paul Senn, Hans Staub oder Theo Frey, um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Aber übers Ganze gesehen gibt es wenig Gemeinsames: weder in der Haltung noch in der Absicht, weder im Stil noch in der Ausführung. Geisers Zeitgenossen, die sich professionell der Fotografie zuwandten und ihre Existenz darauf aufbauten, strebten in der Regel nach einer konkreten Anwendung. In den 1920er Jahren boten etwa die Porträtfotografie, ab den 1930er Jahren auch der Fotojournalismus oder die Sach- und Werbefotografie interessante und dynamische Berufsfelder, in denen man als professioneller Fotograf eine Karriere verfolgen konnte. Ausbildungsstätten wie die Zürcher Fotoklasse unter Hans Finsler, einflussreiche Bildredaktoren wie Arnold Kübler oder grafische Ateliers wie Amstutz und Herdeg in Zürich und Eidenbenz in Basel trugen massgeblich dazu bei, dass bestimmte ästhetische Prinzipien die schweizerische Fotolandschaft nachhaltig prägten: neben der (sozial-)dokumentarischen Reportagefotografie setzte sich, etwa im Bereich der Sachfotografie, eine nüchterne, betont grafische und technisch präzise – um nicht zu sagen: sterile – Ästhetik durch.Von all dem ist Karl Geiser weit, sehr weit entfernt. Als Künstler bewegt er sich klar ausserhalb des Netzwerks der angewandten Fotografie. Fotojournalismus oder klassische Porträtfotografie sind für ihn keine Referenzfelder. Kommt dazu, dass seine künstlerischen Ambitionen auf die Bildhauerei ausgerichtet sind – die Fotografie ist ihm eine Nebenbeschäftigung, und sie ist nur bedingt für die Öffentlichkeit gedacht. Gerade dies erlaubt ihm jedoch eine freie, spontane, unbelastete Nutzung des Mediums. Der Akt des Fotografierens hat für Geiser mehr Bedeutung als das schöne Bild am Ende: eine Möglichkeit, sich vom Leidensdruck in der Bildhauerei zu befreien, eine Gelegenheit, sein hungriges Auge zu befriedigen oder, durch Strassen und auf Plätzen flanierend, sein Begehren zu sublimieren. Reinhold Hohl sprach in einem wegweisenden Aufsatz von 1988 vom «wunderbaren Fischzug des Menschenfischers Karl Geiser», um dessen Umgang mit der Kamera zu charakterisieren. Tatsächlich verhält sich seine Fotografie konträr zu den von 1920 bis 1950 vorherrschenden Auffassungen: sie ist radikal subjektiv, sie ist unverhohlen emotional, sie ist rauschhaft-obsessiv. Karl Geiser interessiert sich nicht für technische Perfektion; unscharfe oder verwackelte Bilder können ihm durchaus wichtig sein. Seine Fotografie lebt nicht von der Information, sondern von den Emotionen, nicht von der gut gelösten Aufgabe, sondern vom Glücksgefühl des Schauenden. Sie forscht aber auch nach den Bildern im Kopf, ordnet die Wirklichkeit nach Bildideen – und wirkt aus heutiger Sicht um so moderner und eigenständiger. In ihren besten Momenten nimmt sie eine Ästhetik vorweg, die erst in der darauf folgenden Generation, inspiriert von Künstlern wie Robert Frank (geboren 1924), zum Durchbruch gelangt.
(...)
«Vor allem auf Reisen in Frankreich und Italien zeichnete und fotografierte er intensiv. Die Bilder, die er bei einem Besuch der Biennale Venedig in den verarmten Wohnquartieren der Stadt machte, zeigen Kinder, Frauen und Männer bei ihren alltäglichen Verrichtungen. Gleich, ob alleine oder in Gruppen, ordnen sie sich selbstverständlich in ihre Umgebung ein, werden zu lebenden Skulpturen im Raum. Der Blick des Bildhauers hebt ihre Würde und Lebendigkeit hervor und zeigt zugleich das Umfeld, aus dem diese sich speisen. Die Zeichnungen und Fotografien zeigen aktive Menschen, keine Opfer. Mit Stift und Leica wird Karl Geiser zu einer Art Bertolt Brecht der bildenden Kunst. Fotografie wurde ihm zum «epischen Genre». Damit weist er auf eine Entwicklung voraus, welche die zeitgenössische Kunst viele Jahrzehnte nach ihm in breitem Masse vollzog.» NZZ am Sonntag
«Geisers Thema ist immer vor allem die Schönheit und Anmut, die unbewusste Sinnlichkeit und die Anteilnahme an seinen Modellen..» Neue Zürcher Zeitung
«Geisers Bilder verblüffen immer wieder mit einer Eigenständigkeit und einer Modernität, wie man sie aus jenen Jahren nicht erwarten würde.» Der kleine Bund
«In ihrer Verbindung von Humanismus, Homoerotik und sexueller Aufladung von Klassenunterschieden erinnern Geisers Männer und Ephebenporträts an Pasolini und seine ‹ragazzi di vita›. Die Sinnlichkeit, Unaufgesetztheit und Unmittelbarkeit seiner Fotografien verleiht Karl Geisers grosser und tragischer Menschenliebe einen Ausdruck, der auch heute noch gültig wirkt.» Tages-Anzeiger
«David Streiff weitet die Publikation über das rein Kunst- und Fotogeschichtliche hinaus aus zu einer eigentlichen Charakterstudie des sensiblen Künstlers.» Neue Luzerner Zeitung
«Seine Bilder leben nicht von der Information, sondern von den Emotionen. Aus heutiger Sicht auch interessant zu sehen, wie der anhaltende Fitnesswahn unsere Vorstellung des Körpers verändert hat.» Kontakt
Bilder aus diesem Buch sind auch als Postkarten erschienen.