Gregor Rabinovitch
Traumgestalten
Das Exlibris-Werk von Gregor Rabinovitch
Mit Texten von Charles Linsmayer / Herausgegeben von Stefan Hausherr
August 2006
vergriffen
978-3-85791-515-4
Kunst um der Kunst willen war seine Sache nicht, seine Vorbilder waren Doré und Daumier und seine Akademien die Revolution von 1905 in Russland, das Strafregiment Kolomensky in Minsk sowie die Schrecken des Weltkriegs gewesen. So blieb er Realist, zeichnender und radierender Chronist eines Zeitalters, das für seine Scheusslichkeiten keine Verfremdungen benötigte. 1933–1945 denunzierte er als «Nebelspalter»-Zeichner in unzähligen Karikaturen den verbrecherischen Charakter des Naziregimes.
Wirklich treu blieb er nur einer einzigen Gattung, dem Ex Libris. Gleich zu Beginn seiner Zeit in der Schweiz fing er an, für alle möglichen Auftraggeber solche Buch-Einklebezettel zu zeichnen, schon 1922 errang er damit in Deutschland einen Preis. Die erhaltenen Ex Libris von seiner Hand, die hier erstmals versammelt sind, zeigen, dass Rabinovitchs künstlerische Physiognomie und sein Reichtum an Formen und Möglichkeiten in diesen unscheinbaren kleinen Blättchen vielleicht am schönsten und vielfältigsten zum Tragen kommen.
Gregor Rabinovitch
Gregor Rabinovitch (1884–1958) wächst als Sohn jüdischer Eltern in Minsk auf. Geprägt von der russischen Revolution, studiert er Jurisprudenz in Moskau. Nach Studienabschluss reist er nach Paris, wo er als Künstler lebt und arbeitet. 1917 Heirat mit Stefanie von Bach, einer gebürtigen Österreicherin, das Paar zieht nach Zürich. Neben seiner freien Künstlertätigkeit, hauptsächlich als Zeichner und Radierer, arbeitet Rabinovitch bald als Karikaturist bei der Wochenzeitschrift «Nebelspalter» und ist auch für andere Zeitungen und Zeitschriften tätig.«Ja, das Leben in fremden Ländern …»
Charles Linsmayer
Die Radierung stammt von 1922, trägt den Titel «Märchen» und fasst in allegorischer Form das ganze Lebensschicksal des Künstlers und Grafikers Gregor Rabinovitch zusammen. Auf der rechten oberen Seite erhebt sich, miniaturenmässig vielgestaltig mit Berg und Tal und Häusern und Kapellen, die Schweiz, auf der linken unteren Seite ist, als trostlose Landschaft mit ausgerissenen Bäumen und verdorrten Strünken, Russland zu sehen, wo traurig und selbstverloren der alte Vater vergeblich auf die Heimkehr des Sohnes wartet. Der steht vorne rechts im Bild, in angestrengter Pose, den Blick abwesend ins Weite gerichtet, und ganz nahe hinter ihm, zum Teil von seinem Körper verdeckt, ist, als wolle sie gleichzeitig Schutz suchen und Schutz bieten, eine blonde junge Frau zu sehen, die den jungen Mann liebevoll anblickt. Zwischen der putzig-verspielten Insel Schweiz und dem dunkel-schweren Russland aber ist die Brücke von den reissenden Wassermassen weggerissen worden, weshalb die im Original heute in der Graphischen Sammlung der ETH Zürich befindliche Radierung im Untertitel auch «Die zerbrochene Brücke» heisst.
Gregor Rabinovitch hat in der Schweiz, wo er als Dreissigjähriger 1914 zufällig hängenblieb – er hatte seine Verlobte, die Österreicherin Stefanie von Bach-Hansberg, von Paris aus nach Wien begleiten wollen, bekam aber, in Genf angekommen, weder ein Einreisevisum nach Österreich noch eine Rückreiseerlaubnis nach Paris –, 44 Jahre seines Lebens verbracht, wurde 1929 ehrenvoll ins Zürcher Bürgerrecht aufgenommen, war als «Nebelspalter»-Karikaturist ein Hauptexponent des geistigen Widerstands gegen Hitler, leistete fraglos seinen Aktivdienst in der Schweizer Armee – und ist im Herzen dennoch bis zuletzt mit aller Leidenschaft Russe geblieben. «Im Zentrum meines Interesses stand immer der Mensch», schrieb er in seinen von 1950 bis 1956 entstandenen «Tagebuchblättern des Alters». «Sein Gesicht, seine Figur, seine Bewegungen beobachtete ich ständig. Wahrscheinlich, wenn ich in Russland geblieben wäre, hätte mich auch die äussere Natur, die Landschaft, angezogen, weil sie mir dort innerlich nahe war. Vor den Schweizer Bergen stehe ich als Fremder stumm. Das Grandiose, Erhabene dieser Landschaft greift meine Seele nicht an. Ich bewundere sie, kann sie aber nicht ins Herz nehmen.» Rabinovitch hat die Schweiz als Lebens- bzw. Überlebensmöglichkeit begriffen, gab da seinen Einsatz, war in einen breiten Freundes- und Bekanntenkreis integriert, behielt dem Ganzen gegenüber aber jene ironisch-satirische Haltung bei, wie sie aus dem Schreiben herausleuchtet, mit dem er 1929 Stadtpräsident Emil Klöti für die Aufnahme ins Bürgerrecht dankte. Sein Konterfei als Spaziergänger, Brissago-Raucher, Jasser und Jodler umrankend, steht da zu lesen: «Lieber Herr Doktor, seit ich Ihren Brief erhalten habe, schreite ich mit Bürgerstolz auf dem Bürgersteig, versuche ich Brissagos zu rauchen, suche ich krampfhaft nach einem Jasspartner und verliere ich nicht die Hoffnung, dass ich anstatt des Jüdelns noch das Jodeln erlerne. Ihr Gregor Rabinovitch.»
«Anstatt das Jüdeln noch das Jodeln erlernen» – die Formulierung ist bei aller Selbstironie nicht ohne jene Erfahrung denkbar, die Rabinovitch das Gefühl des Fremdseins in der Schweiz am nachhaltigsten und schmerzlichsten spüren liess: die Diskriminierung auf Grund des latenten Antisemitismus, die er in ihrer leisen, hinterhältigen Art sogar noch als bedrohlicher und schmerzlicher empfand als die offene Juden-Verfolgung im zaristischen Russland. Weil er wusste, dass das «bessere Russland» den Antisemitismus der Regierung ablehnte, spürte er in Russland «nie das Minderwertigkeitsgefühl des Juden». «Nur im Ausland, hauptsächlich hier in der Schweiz, wo ich es am wenigsten erwartete, stosse ich in meiner Tätigkeit, im Verkehr mit Menschen, in der Gesellschaft und sogar an amtlichen Stellen auf den latenten Antisemitismus. Hier ist er nicht brutal wie in Russland, es gibt keine Pogrome, es gibt keine Juden erniedrigende Gesetze, aber es steckt in der Seele des Volkes, in allen Schichten des Volkes. Es ist oft ein höflicher Antisemitismus, dem man nicht entgehen kann. Es sind Nadelstiche, die sehr weh tun.»
Kindheit und Jugend am Vorabend der russischen Revolution
Gregor Idelew Rabinovitch kam am 13.August 1884 in Oranienbaum bei St.Petersburg als Sohn des Drogisten Idel Morduchowitch Rabinovitch und der Fanny Romanowna Rabinovitch, geborene Rubinstein, zur Welt. Der Vater besass in Wilna, der heutigen litauischen Hauptstadt Vilnius, eine Drogerie, und die Familie verbrachte in Oranienbaum ihre Ferien. Die russische Kindheit war Rabinovitch so wichtig, dass er sie 1944 in einem grossformatigen, im Selbstverlag publizierten, mit zahlreichen Zeichnungen versehenen Band «Erinnerungen an Kindheit und Jugend» – dem einzigen Buch, das er je unter eigenem Namen veröffentlichte – ausführlich beschrieb. Der Text setzt mit einem Ereignis ein, das seine Kindheit nachhaltig bestimmte: «Mein Vater starb, als ich etwas über ein Jahr alt war, so habe ich keine bewusste Erinnerung an ihn, und bald folgte ihm auch meine kleine Schwester im Tode nach. Meine Mutter übersiedelte dann zu ihren Eltern nach St.Petersburg. Gegenüber unserem Hause befand sich die Matrosenkaserne, und stundenlang sass ich am Fenster und zeichnete die Matrosen in ihren schönen blauen Uniformen. Als ich sechs Jahre alt war, heiratete meine Mutter zum zweiten Mal, einen Witwer mit acht Kindern. Der Stiefvater und die neuen Geschwister nahmen mich mit Liebe als ihren Sohn und Bruder auf, und auch ich habe ihnen mein Leben lang die gleichen Gefühle entgegengebracht.» Das Buch schildert die Welt der russischen Oberschicht, in die Rabinovitch dank seinem Stiefvater, dem Bankier, Fabrikant und Grundbesitzer Moses Pollak, Zugang bekam. Es zeichnet die Jahre am Gymnasium von Minsk nach, das wie eine Militäranstalt funktionierte und wo Rabinovitch unter einem sadistischen Lehrer zu leiden hatte, und es beschreibt die allmählich eskalierende Gewalt im Vorfeld der Revolution von 1905, als das zaristische Regime die Herrschaft mit brutalen Aktionen vor allem auch gegen die jüdische Minderheit zu sichern suchte und die Kosaken bei Demonstrationen und Zusammenrottungen immer wieder wahllos in die Menge schossen. Das Buch zeigt allerdings unverkennbar, dass Rabinovitchs Stärke nicht in der erzählerischen Wiedergabe der Vorgänge liegt, die oftmals nur schwer verständlich ist und zu der er eine Zeitlang sogar Hermann Hiltbrunner das Wort gibt, dem er von einem besonders spektakulären Vorgang mündlich berichtet hatte. Was den Bericht zum Ereignis macht, sind die Kohlezeichungen, die einem die Not der leidenden Bevölkerung, die Angst auf den Gesichtern der jüdischen Studenten, den Aufmarsch der berittenen Kosaken, die sich vor Schmerz krümmenden Sterbenden auf den verschneiten Strassen ganz unmittelbar vor Augen führen.
(...)
Vom biografischen Essay von Charles Linsmayer gibt es Übersetzungen ins Französische und Englische sowie eine Zussammenfassung in russischer Sprache, die Broschüre kann beim Verlag bestellt werden.
«So schuf Rabinovitch zeit seines Lebens Exlibris, die in der vorliegenden Publikation erstmals umfassend vorgestellt werden. Ein aufschlussreicher Text über den Künstler und Menschen Rabinovitch ergänzt den ansprechenden Band.» NZZ
«Das neu erschienene Buch ‹Traumgestalten› befasst sich mit einer besonderen Kunstform, die genauso wie Rabinovitch leider in den letzten Jahren in Vergessenheit geriet: Das Exlibris-illustrierte Bucheignerzeichen, mit dem Bücherfreunde ihre Bücher zu schmücken pflegen.
Der Sammler Stefan Hausherr stellt im 143-seitigen Buch das Exlibris-Werk Rabinovitchs vor, Charles Linsmayer befasst sich in einem spannenden Essay mit den Lebensstationen des 1929 in Zürich eingebürgerten Zeichners.» Nebelspalter
Gregor Rabinovitch
Die Bilder sind urheberrechtlich geschützt: Keine Verwendung irgendwelcher Art ohne Genehmigung des Verlags.