Marienkäfer und Kakerlaken
Fritz Bär

Marienkäfer und Kakerlaken

Erinnerungen an eine bewegte Jugend 1919‒1941

Herausgegeben von Paul Hugger

Das volkskundliche Taschenbuch [31]

288 Seiten, Broschur, 23 Abbildungen
Februar 2003
SFr. 38.–, 42.– €
vergriffen
978-3-85791-418-8

Schlagworte

Lebensgeschichten
     

Fritz Bärs autobiografischer Text beschreibt einfühlsam und anschaulich eine Jugend zunächst auf dem Land, im zürcherischen Säuliamt, später in der Kleinstadt Zug. Mit grosser Erinnerungsschärfe zeichnet er das damalige Alltagserleben eines Heranwachsenden, mit liebevollem Blick für prägnante Details.

Packend erzählt Bär die späteren Jahre, die er als Knecht oder eher Knechtlein in der Westschweiz verbringt, in einem Dorf am Fuss des Neuenburger Juras. Es sind harte Arbeits- und karge Lebensbedingungen voller Alleinsein und Heimweh.

Dem guten Erzähler gelingen immer wieder atmosphärisch dichte Beschreibungen, so dass sich Zeitbild an Zeitbild reiht und dem Leser eine eindrückliche Vorstellung vom Leben der einfachen Leute in der Zwischenkriegszeit vermittelt wird. Dazu gehört nicht zuletzt die Lehre als Bäcker in einem Zürcher Arbeiterquartier in den Jahren, die bereits von Kriegsahnungen überschattet sind.

Fritz Bär
© Limmat Verlag

Fritz Bär

Fritz Bär, 1919 bis 2002, aufgewachsen in Obfelden ZH und Zug. Nach der Schulzeit Bauernknecht in der Westschweiz, Bäckereiausläufer in Winterthur, Bäckerlehre in Zürich, 1939 Rekrutenschule, 1941 Unteroffiziersschule. Heirat, Fabrikarbeiter in einer Spinnerei in Zug. Ab 1957 Gewerkschaftssekretär, später Gastwirt. 1968 Tod seiner ersten Frau, zweite Heirat 1972.

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Paul Hugger
© Yvonne Böhler

Paul Hugger

Paul Hugger, 1930–2016, Studium der Volkskunde, Ethnologie und Romanistik, em. Ordinarius für Volkskunde an der Universität Zürich. Zahlreiche Publikationen über Schweizer Fotografen, zur Alltagsfotografie, Herausgeber u. a. des Handbuchs der Schweizerischen Volkskultur, «Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre», Herausgeber der Reihe «Das volkskundliche Taschenbuch» und Mitherausgeber «FotoSzene Schweiz» im Limmat Verlag.

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Inhalt

Wie es anfing 11 • Von Walzbrüdern, Melkern und der Emigration aus Deutschland 13 • Schwerer Anfang in Ottenbach 17

Kindheit auf dem Lande

Ein Schreihals betritt die Welt 18 • Sturz ins Kellerloch 21 • Mit Vater in der Ziegelei 23 • Storchenbesuch 25 • Wie sich die kleine Rosi der Bauernlümmel erwehrt 28 • Bäuerliche Tierliebe 30 • Osternester 32 • Von Matzkuchen und Zwetschgensuppe 34 • Der erste Schritt in die grosse, weite Welt 38 • Strategien des Überlebens 42 • Ein verfehlter Wurf ins Auge 44 • Lehrers Sturz in die Jauche 45 • Vaters Heisshunger 49 • Eheleid 52 • «Fuchs, du hast die Gans gestohlen ...» 53 • Bescherung an Weihnachten 55 • Schulsilvester 57 • Handharmonika und Schweinezucht 58 • Dem Dorfpolizisten einen Denkzettel 60 • Geheimnisvoller Onkel Emil 61 • Der kleine Bruder stirbt 64 • Hellseherei? 66 • Noldi – das fotografierende Unikum 67 • Filmvorführung mit Knall 69 • Radio 70 • Tobendes Gewitter 73 • Heustampfen – mein erster Job 75 • Hilfsglöckner 78 • Vom Schlitteln 82 • Sonntägliches Haarschneiden 84 • Schnitzeljagd 85 • Grosseltern, wie sie im Buche stehen 86 • Vom Gärtnern 88 • Scheitern am Klavier 89 • Fasnachtsfeuer 90 • Zahnschmerzen und was dazu gehört 92 • Zeitungsaustragen 95 • Der verpasste Lebkuchen 98 • Velounfall 99 • Doppelte Strafe 102 • Gibbe’s Tod 104 • Harmonika-Schule in Zug 107 • Das «Milchbüchlein» 108 • Erste Bahnfahrt 109 • Sündenfall am Kirschbaum 113 • Das Glücksrad 115 • Vaters erstes Konzert 133 • Frä ulein Lehrerin 134 • «Tatzen» 135 • Vater greift ein 138 • Der Tintenklecks 139 • Eine überraschende Geste 141 • Der Lehrer «bei sündhaftem Tun ertappt» 142 • Hundebiss 144 • Die verlorenen Quittungen 146 • Der Tod und der Mohrenkopf 148 • Fort auf dem elenden Nest 150 • Umzug nach Zug 151

Stadtbub

Ein anderes Wohngefühl 154 • Pech mit den neuen Hosen 157 • Schlafen in luftiger Höhe 159 • «Büsis» Reise nach Zug 161 • Der Griff in Vaters Kasse 163 • Verpatztes Feuerwerk 164 • Mutters Gebiss 165 • Ein feiner «Pinkel» 166 • Der erste Schnaps und die Folgen 167 • Kampf den Maikäfern 169 • Beinahe ertrunken 170 • Gottesmannes Ohrfeige 171 • Leonardo – der Hypnotiseur 172 • Der Engel von Zürich 173 • Ein schöner, bunter Morgenrock 178 • Qualvolle Operation 179 • Die Friedenspfeife und ihre Folgen 180 • Zugvögel 182 • Wanzen 183 • Dank «Ghandi» in der Sekundarschule 184 • Schülerstreiche 185 • Die ersten Skier 188 • Vaters T öff brennt 190 • Das verschwundene Floss 191 • John King – der Beschützer der Armen 192 • Zwei dumme Streiche 193 • Bruder Luftibus 196 • Welschlandpläne 197 • Herzzerreissender Abschied 198

Reifen in der Fremde

«Viens, Fritz!» 199 • Flugs an die Arbeit 202 • Schwielen, Blasen, Muskelkater 203 • Fremdartige Kost 204 • Der Gang zum Schlachthaus 206 • Kein «gamin» mehr 208 • Kegelbub 208 • Das erste Fondue 209 • Schinderei 210 • Urlaub zu Hause 211 • Kalte F üsse 212 • In die Meistersfrau verliebt 213 • Konfirmation 215 • Eine neue Stelle im Tessin – nichts als Anpfiff 217 • Flucht 222 • Scheitern am Gotthard 223 • Ein Polizist mit Herz 225 • Ausläufer in Winterthur 226 • Ich suche erneut das Weite 228 • Wieder in der Westschweiz 231 • Ein reumütiger Sünder 232 • Ein reizender Busen 234 • Bergheuet 234 • Blitz und Donner getrotzt 235 • Absinth 236 • Der Dreschtag – ein Fest 237 • Schlachttag 238 • Späte Schwangerschaft 239 • Trostlose Weihnachten 240 • Ich werde zum Sonderling 241 • Finanzielle Hilfe für den Vater 244 • Lehre als Bäcker und Konditor 246 • Kakerlaken 247 • Flirt im Laden 248 • Osterhasenguss 250 • Rote Farbe auf Zürichs Strassen 252 • Ein unheimlicher Freund 254 • Der schöne Dino 256 • Kutteln an Tomatensauce 258 • Peinlich! 260 • Dunkle Vorzeichen der eruopäischen Katatstrophe 261 • Ein deutscher Jude in der Schnellehre 262 • Lallende Worte 263 • Rekrutierung 264 • Lieschens Hochzeit 265 • Bäckergeselle 266 • Gebirgsfüsilier-Rekrut 269 • Kriegsausbruch 270 • Der enttäuschte Schützenkönig 271 • Skikurs ohne Skis 271 • Wachvergehen 273 • Die grosse Liebe 278 • Kriegsbrot 279 • Tochter von Fahrenden 280 • Eifersucht der Mutter 281 • «Mussheirat» 281

Kindheit auf dem Lande

Ein Schreihals betritt die Welt

Grossvater bezog eine Wohnung im alten Gemeindehaus in Obfelden, wo er auch eine Schusterwerkstatt eröffnete. Meine Mutter bekam auf dem abgelegenen Hof auf dem Albis ohne Vater, der ja in der Rekrutenschule war, Angst, und eines Tages packte sie alles zusammen und zog zu Grossvater. Heimgekehrt, fand Vater bald Arbeit in einer Ziegelei. Im Herbst, genau am 25. Oktober 1919, brachte Mutter ihr fünftes Kind zur Welt. Die Geburt des Knaben muss so schwer gewesen sein, dass Mutter fast acht Monate bettlägerig war und in dieser Zeit nur mit Mühe das Nötigste im Haushalt verrichten konnte. Zudem sei der Bub ein ausdauernder Schreihals gewesen, erzählten später übereinstimmend Eltern und Geschwister. Dieses Knäblein wurde auf den schönen Namen «Friedrich-Johann-Rudolf» getauft. Ein Glück, dass man wenigstens hinzufügte «Rufname Fritz» — sonst wäre ich sicherlich meiner Lebtag zum Gespött meiner Mitmenschen geworden. Ja, ich war es, der als fünftes Kind meiner Eltern die Erde betreten hatte und am Anfang nur Sorgen und Kummer in die Familie brachte.

Die Unterkunft bei den Grosseltern konnte wegen Platzmangel nur vorübergehend sein, so dass Vater eine genügend grosse Wohnung suchen musste. Ein Jugendfreund besass in Bickwil ein leerstehendes Haus. Alt und verlottert, war es äusserst reparaturbedürftig. Aber es war gross, hatte zehn Zimmer und war sehr preisgünstig. Mit 500 Franken Anzahlung war das Haus zu haben. Dieses Geld war für einen gewöhnlichen Arbeiter, der fünf Kinder zu ernähren hatte, ein Riesenvermögen. 500 Franken zu beschaffen, dazu reichte auch ein 14-Stunden-Arbeitstag und ein Nebenverdienst nicht aus. Da kam ein anderer Freund meines Vaters zu Hilfe und lieh ihm das Geld. Wiederum, wie so oft bisher und auch in späteren Jahren, ging Vater ein grosses Risiko ein, vertrauend auf sein Glück und die Arbeitsleistung, die er mit seinem Willen und seiner Strebsamkeit erbringen konnte.

Das Haus wurde bezogen, musste aber vorerst einmal wohnlich gemacht werden. Böden waren kaputt, Wände wackelten, an der Treppe zu den höher gelegenen Zimmern fehlte das Geländer, keine einzige Türe konnte geschlossen werden. Und dann die Küche: schwarz, schmutzig und kalt konnte sie einem das Gruseln beibringen. Dazu führte von dort eine unheimliche Treppe durch eine Falltüre in den Keller. Ganz gefährlich war, dass neben dem Schüttstein aus speckigem Sandstein diese Falltüre lag. Vater ordnete von Anfang an an, dass diese Türe immer geschlossen sein müsse, sonst könnte jemand am Schüttstein ausrutschen, in den Keller fallen und auf der Steinplatte dumm verunfallen. Jetzt ging es zuerst einmal ans Renovieren. Das zusammengebrochene Kamin wurde frisch aufgemauert, die Türen wurden mit neuen Schlössern versehen, Wände neu eingezogen, das Güllenloch wurde renoviert, dann wurden die Böden geflickt und gestrichen. Am Schluss holte mein Vater bei seinem Musikfreund, der eine Schlosserei in Ottenbach betrieb, gelöschten Kalk und strich das ganze Haus innen und aussen. Einige Reparaturen liess man durch Fachleute machen, aber immer erst dann, wenn vom Lohn etwas Geld übrig war. Zum Hause gehörte ein kleiner Garten und gegen die Landstrasse hinaus ein Hühnerhof. Dann wurde ein grösseres Stück Land gepachtet, auf dem Gemüse und Kartoffeln angepflanzt wurden. Später kam sogar noch ein kleiner Rebberg mit einem Gartenhäuschen dazu.

Jetzt also hatte es Platz für neuen Nachwuchs, und in fast regelmässigen Abständen kamen weitere Kinder zur Welt. Im Mai 1921 war es Margarethe, genannt Gritli, im Dezember 1922 Hansli und im Februar 1924 Klärli. Für eine so grosse Familie konnte das Essen nur einfach sein. Kartoffeln und Gemüse kamen täglich auf den Tisch. Gab es eine dicke Suppe, musste Mutter den Herd früh anfeuern und den grossen Topf aufstellen. Am Morgen gab es ein Stück dunkles Brot und etwas Malzkaffee. Das Essen ist eigentlich das Wichtigste, was mir am Anfang meiner Jugenderinnerungen im Gedächtnis geblieben ist. Ich war in eine Familie hineingeboren worden, wo Schmalhans täglich zu Gast war, und da nützte auch das Schreien nichts, wenn der Teller leer war. Mehr als das, was Mutter geschöpft hatte, gab es einfach nicht. Wenn ich an diese Mahlzeiten denke, erinnere ich mich plötzlich an viele Dinge, die sich bei uns wirklich zugetragen haben.

(...)

Wie sich die kleine Rosi der Bauernlümmel erwehrt

In Bickwil, unserem Dorf, gab es weder Fabriken noch Gewerbe oder Läden, wo man etwas einkaufen konnte. Es war eben ein reines Bauerndorf. Zu sagen, dass uns die Bauern überaus wohlgesinnt waren, wäre übertrieben. Es war eben ein Bauernvolk, wie es sie überall mit ihren besonderen Eigenschaften gibt: misstrauisch gegen alles Fremde und Andersartige, skeptisch bis zurückhaltend oder ablehnend gegenüber Menschen mit einer anderen Sprache und Kultur. Dieses Verhalten unserer Nachbarn spürten wir während langer Zeit. Der sächsische Dialekt, den die Eltern und meine Geschwister sprachen, verstärkte noch die Kluft zwischen uns und den Einheimischen. Kleine Reibereien, unter denen besonders Mutter litt, waren an der Tagesordnung. Immer öfters kamen die Geschwister weinend nach Hause und klagten über Gespött oder Belästigungen. Nun war aber Rosi, das drittälteste Kind, nicht nur ein kleiner Rebell, sie war auch trotzig und stark. Als es ihr einmal zuviel wurde, verprügelte sie einen Bauernsohn nach Strich und Faden. Der lief weinend und jammernd nach Hause, und nun war der Teufel los im Dorfe. Gegen Abend kamen einige Bauern vor unser Haus und verlangten vom Vater, dass er Rosi herausbringen solle, damit das böse Mädchen bestraft werden könne. Vater, der noch stolzer war als seine Tochter, lehnte selbstverständlich ab und und forderte die Männer auf, abzuziehen. Da der Haufen der Rächer immer grösser und bedrohlicher wurde, wurden an den Fenstern die Läden heruntergelassen und die Türe verschlossen. Inzwischen wurde es Nacht, und die Belagerung dauerte fort. Es war schon unheimlich: draussen die wütenden, schimpfenden Bauern und bei uns drinnen eine ängstliche Ruhe. Als es auch Vater sichtlich nicht mehr wohl war, schickte er Kurt, das zweitälteste Kind, nach Ottenbach. Er sollte dort bei seinem Musikkollegen Hilfe holen. Das war der Schmid, bei dem wir jeweils den gelöschten Kalk für den Wandanstrich und das Karbid für die Velolampe kauften. Dieser Schmid war Präsident des Männerturnvereins, so dass Hoffnung bestand, er würde ein paar kräftige Turner zusammentrommeln und Hilfe bringen. Kurt musste das Haus durch den Keller und den Hühnerhof verlassen, damit ihn unsere Belagerer nicht erwischen konnten. Nun, die Mannen aus Ottenbach kamen. Die Bauern liessen es auf eine tätliche Auseinandersetzung gar nicht ankommen. Sie zogen ab, wenn auch mit saftigen Flüchen und Schwüren auf Rache. Doch man liess uns in Ruhe, und Rosi galt in der Schule als anerkanntes Oberhaupt. Wer es als Mädchen fertig brachte, einen starken Bauernsohn zu verprügeln, verdiente besonderen Respekt und Achtung. Es blieb zwar nicht bei dieser Keilerei, doch war Rosi immer Siegerin. Über ihren Stolz und über ihren Trotz wird in diesen Erinnerungen noch mehr zu berichten sein.

Anzeiger des Bezirks Affoltern, 14. März 2003
Neue Zuger Zeitung, 29. März 2003
Schweizer Bibliotheksdienst, April 2003
Zuger Presse, 15. Juli 2003
Korrespondenzblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 1/2003
Schweizerisches Archiv für Volkskunde 99/2003


«Es ist beeindruckend, wie Bär die Atmosphäre in der Zwischenkriegszeit aufleben lassen kann, die zwischen Euphorie und kommenden Kriegsahnungen schwankte, und es ist gut nachvollziehbar, wie diese Unsicherheit das Leben des jungen Bäckerlehrlings überschattete» Schweizer Bibliotheksdienst

«Das Buch bietet viele leicht lesbare Geschichten, aber auch Schilderungen der damaligen Lebensumstände mit ihren sozialen, wirtschaftlichen Verhältnissen, von denen die heutige Zeit nur mehr weniger weiss oder gar nichts mehr kennen kann.» Neue Zuger Zeitung

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