Dieter Bachmann
Unter Tieren
September 2010
978-3-85791-610-6
Hebel, ein Mann fortgeschrittenen Alters, hat die Menschheit zunehmend satt. Er will keine neuen Menschen mehr kennenlernen. Lieber vereinsamt er, und das mit Behagen. Er geht zu den Tieren: Gegenstand niemals ermüdender Anschauung, der Bewunderung, des Nachsinnens. So war die Schöpfung gemeint, denkt Hebel. Er beobachtet, macht Notizen, legt Zeitungsmeldungen beiseite. Und während sein Freund Anderberg in seinem Haus tote Käferchen und Fliegen in einem Schaukästchen sammelt, ordnet Hebel seine 'Zettelwirtschaft' zu einer Art Tagebuch mit Tieren. 'Unter Tieren' ist formal und inhaltlich ein Buch ungewohnter Art, ein erzählerischer Essay in knappen, pointierten Texten. Die immer erneute, immer anders gefasste Verwunderung über die Kreatur: 'Das Tier dir anheim gegeben, der du doch nur ein Mensch bist: tiefste Rührung, Verzückung.' Die Verletzbarkeit dieser sprachlosen Welt vor Augen, hegt Hebel die bittere Vermutung, dass der Mensch seiner Welt nicht würdig war.
Dieter Bachmann
Dieter Bachmann, geboren 1940 in Basel, 1988–1998 Chefredaktor der Zeitschrift «du», Autor der Romane «Rab», «Der kürzere Atem» und «Grimsels Zeit». Publizist und Herausgeber zahlreicher Sachbücher. Im Limmat Verlag erschienen zuletzt der Fotoband «Aufbruch in die Gegenwart. Die Schweiz in Fotografien 1840–1960», der erzählende Essay «Unter Tieren» sowie der Roman «Die Gärten der Medusa».Guten Tag, Herr Rab ...
Leere Halle im Jenseits. Graues Halblicht. Irgendwo eine Krähe. Irgendwo anders eine Zibetkatze.
zibetkatze (höflich): Guten Tag, Herr Rab. Willkommen.
krähe (unwirsch): Bin nicht Rab. Bin nur Krähe.
zibet (unverändert): Entschuldigen Sie. Aber eigentlich ist mir der Unterschied zwischen Ihnen nicht geläufig –
krähe (unverändert): Zwischen mir ist kein Unterschied. Oder so: als Rabe wäre ich eine Krähe, als Krähe muss ich nicht auch noch Rabe sein.
zibet: Sie bleiben länger?
krähe: Einen Augenblick lang.
zibet: Sie haben es besser.
krähe: Ich habe einen Leichenzug herbegleitet. Gleich geht’s zurück. Und Sie, bleiben Sie?
zibet: Muss.
krähe: Tot?
zibet: Mehr noch: ausgestorben.
krähe: Sie sind ausgestorben?
zibet: Meine Art ist grade dran. Ich gehöre zur Vorhut. Meine Verwandten sind auch bald da. Zibet … Zibetkatze. Danke.
krähe(zieht ein iPhone, gibt ein): Zibetkatze. Hm. Felix zibet. «Felix» wie «glücklich», also glücklich wie Felix felix, die Hauskatze?
zibet: Unglücklich, mit Verlaub. Und wir gehören trotz dieses Namens nicht zu den Katzen. Das «felix» war ein Irrtum, wir sind eine eigene Gattung. Schauen Sie unter «Manguste» nach. Ein merkwürdiges Wort, ich weiß. Riecht irgendwie fischig. Im übrigen wurden wir zoologisch-nomenklatorisch mehrfach umgebettet.
kräherähe (macht krummen Hals): Familie Viverra?
zibet: Richtig, Sie sind im Bild. Ich bin Viverra Zibetha, wenn Sie gestatten, aus Guangdong. Sagen Sie Zibet zu mir. Bitte aber nicht Zibi.
krähe: Sehr freundlich, Zibet. Gestatten Sie: ich Krähe aus Flandern. Familie Corax. Meine Frau, aus besserer Familie, gehört zu den Nebelkrähen, aber wir paaren uns selten. Bin zuviel unterwegs. Wir Normalkrähen sind quasi überall. Haben Geschwader auch nach China geschickt. Japan gehört uns.
zibet (geziert): Wir kommen vor allem im Tropengürtel vor. In China freilich auch etwas nördlicher.
krähe (nicht sehr interessiert): Wie ist es bei Ihnen in China?
zibet: Mörderisch. Im Augenblick werden wir alle umgebracht.
krähe (höhnisch): Als reaktionäre feine Pinkel? Wegen öffentlich geäusserter Parteikritik? Künstler?
zibet: Nein.
krähe: Oder weil man Parfum aus Ihnen machen will?
zibet: Nicht mehr. Unser Sekret wird längst synthetisiert. C17H30O. Ein zyklisches Keton, chemisch gesprochen. Ohne Umweg über unsere Afterdrüse sofort Moschusduft. Sie entnahmen es mit einem Löffelchen, äußerst schmerzhaft, ganz abgesehen davon, dass der Chinese, nicht gerade ein Tierfreund, uns in Käfigen gehalten hat, die kleiner waren als wir selber. Unser Drüsensekret. Sie sagen, es stinke; aber sie nehmen es, sie drehen es um, und bei ihnen wird Parfum daraus. Oder das, was das Parfum haltbar macht, den Fixateur. Sie nennen es «Zibettinktur».
krähe: Ihr seid für den Menschen brauchbar.
«Er scheint eher ein staunender Wanderer wie Robert Walser zu sein als ein am Abgrund wandernder Lenz bei Büchner, der die Welt kopfüber sieht. Bachmanns Hebel will den vom Menschen unterdrückten, ausgebeuteten und verzehrten Tieren neu und mit offenen Sinnen begegnen. Tiere sind sprachlos und unschuldig – jedenfalls meint es der Mensch. Sie stehen im Zoo auf der anderen Seite des Gitters und staunen den Menschen an, der sein Futter verzehrt wie sie und wunderliche Dinge tut.» Frankfurter Allgemeine Zeitung
«Dieter Bachmanns ‹Unter Tieren› ist ein faszinierendes, anrührendes, kluges, universalgebildetes kleines Prosawerk, das nichts zu tun hat mit jenen gerade modischen Büchern, in denen Menschen sich selbst zu Tierschützern erheben.» Frankfurter Rundschau
«Dieter Bachmann stellt seine Figuren nicht bloss und setzt sie nicht dem Spott aus. Vielmehr formt er sie – in all ihren Skurrilitäten – mit dem Eros der Genauigkeit, überdies mit sanftem Witz und absurder Komik. Das ist dann freilich nie Zynismus, allenfalls blitzt hier schalkhafter Sarkasmus auf, grundiert von liebevoller Ironie. Kurz: Dieser Autor ist ein fröhlicher Misanthrop, ein geniesserischer Satiriker, ein höchst geselliger Zeitgenosse und ein köstlicher Stilist.» Neue Zürcher Zeitung
«Mit dem Tier-Tagebuch entblösst Bachmann die Menschheit in ihrer ganzen Lächerlichkeit und Bösartigkeit. Vor allem die Mischung aus eleganten Schreibstill, trüben Gedanken und den oft makaber-witzigen Zeitungsausschnitten, die nicht immer echt sind, macht Bachmanns Werk so eindrücklich.» Brigitte
«Dieter Bachmann Prosa ist fein, sie überrascht und spielt mit den Genregrenzen Fiktion/Sachbuch. Sehr lohnenswert!» Literaturkurier
«Der in Basel geborene Dieter Bachmann wendet sich nach Jahren als Journalist (Weltwoch, Du) und Schriftsteller nun den Tieren zu, eine Geste der Abwendung, der Verlangsamung, um nachzusinnen über die Krokodile Ägyptens, Vögel in Rom, Kraken, Krähen, Mäuse, Mücken - und ihre Menschen: ‹Ein Tier im Schlaf behüten zu dürfen, gehört zum Grössten, was dir widerfahren kann. Das Tier ist die anheimgegeben, der du doch nur ein Mensch bist.›» Basler Zeitung
«Dem ehemaligen ‹Du› Redaktor Dieter Bachmann ist ein funkelndes Mosaik überraschender kleiner Texte gelungen: pointiert, melancholisch, humorvoll.» Berner Zeitung
«Etwas Ausserordentliches ist gelungen. Die Sprache, die sich adjektivlos wie am Schnürchen durch die Seiten zieht. Eine gleich bleibende Sprachhöhe – wunderbar kunstvoll, ein lakonischer Sarkasmus, die in höhere Weisheit mündet. Literatur und Philosophie verschmelzen. Endlich hat es einer sagen können.» Guido Magnaguagno
«Ein kleines Buch, das gewiss zu den originellsten Neuerscheinungen gehören wird. ... Aber sein (Kunst)springen zwischen den Genres, die Mischung von Leichtem und Schwerem, die er herstellt, die gestochen scharfe Formulierung, die er fürs Nahrhafte wie für die Schaumbäckerei findet – das macht, dass einen der Text nicht los lässt bis zum Schluss.» Journal 21
«‹Unter Tieren› hat bei aller Bildung, die in Bachmanns Exkurs in die Tier- und Menschenwelt mitschwingt, etwas Leichtes wie Schweres, Humorvolles wie Böses, ist ironisch und sarkastisch, ohne jemals zynisch zu sein. ‹Es gibt nur eine Instanz, bei der das Tier gegen den Menschen eine Chance hätte›, meint Hebel gegen Schluss, «und das ist ausgerechnet die unanrufbarste: der Mensch.» Nun, mit «Unter Tieren» hätte Bachmann eine Instanz geschaffen. Gelegentlich wirken auch Worte.» Mittellandzeitung
«‹Unter Tieren› bringt den Leser dazu, sein Augenmerk wieder einmal auf das Wesentliche zu richten und bietet viele Anregungen zu weiterführenden Gedanken und Diskussionen. Dafür sind wir dem Autor dankbar und möchten ihm in diesem Sinne nicht nur zu seinem neusten Werk, sondern auch zu seinem siebzigsten Geburtstag nächsten Monat gratulieren.» nahaufnahmen.ch
«Manchmal funktionierts, sich beim Buchkauf von einem schönen Cover verführen zu lassen. Zum Beispiel bei diesem zauberhaften Buch. Das opulente und detailverliebte Gemälde von Edwin Landseer (1802–1873) der viktorianischen Zooszene entspricht perfekt den virtuosen Formulierungen, den wunderbaren Wortklängen und der stilistischen Brillanz von Dieter Bachmann. Wer sich auf ein Stück ernsthafte Gegenwartsliteratur, sprachliche Meisterschaft und die unorthodoxe Gedankenwelt eines freundlichen Misanthropen einlassen will, wird mit ‹Unter Tieren› von Dieter Bachmann (Limat Verlag) ein paar Stunden Glück zwischen Buchdeckeln finden.» Schweizer Illustrierte SI Style