Fügsam dagegen/Docile contro
Federico Hindermann

Fügsam dagegen/Docile contro

Gedichte italienisch und deutsch

Übersetzt von Antonella Pilotto / Mit einem Vorwort von Fabio Pusterla / Ausgewählt von Antonella Pilotto

144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
1., Aufl., Januar 2009
SFr. 38.–, 38.– €
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978-3-85791-563-5

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Im deutschsprachigen Raum ist Federico Hindermann bis heute kaum bekannt, obwohl er sein Arbeitsleben als Verlagsleiter, Übersetzer und Herausgeber in der Deutschschweiz verbracht hat und seine Gedichte im renommierten Verlag Scheiwiller in Mailand erschienen sind. Vielleicht deshalb, weil er selbst die Zurückgezogenheit sucht? Er ist ein sanfter Rebell, der von sich kein Aufhebens macht und sich allen Definitionen immer wieder entzieht. 'Docile contro/Fügsam dagegen' umreisst die poetische, ethische und politische Dimension seiner Lyrik. In Hindermanns Gedichten berühren sich die kleinen, bescheidenen Alltagsdinge mit den universalen Fragen. Er benennt das ganz Kleine in seinem konkreten Dasein und verbindet es überraschend mit dem ganz Grossen, mit einer metaphysischen Tiefe oder kosmischen Weite. Durch dieses Verfahren, diesen Blick erhalten die kleinen Dinge des Lebens, die schmerzhaftesten wie die mittelmässigsten, einen eigenen Glanz.

Federico Hindermann

Federico Hindermann (1921–2012), geboren in Biella (Piemont), sein Vater war Schweizer, seine Mutter Italienerin. Er verbrachte seine Kindheit in Turin, seine Jugend in Basel, unterrichtete Deutsch in Oxford und Romanische Philologie in Erlangen. Er arbeitete in Zürich als Übersetzer und Herausgeber und von 1971–1987 als Leiter des Manesse Verlags.

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Fabio Pusterla
© Archiv Marcos y Marcos

Fabio Pusterla

Fabio Pusterla, geboren 1957 in Mendrisio und Studium in Pavia, lebt in Norditalien und unterrichtet in Lugano am Gymnasium italienische Literatur. Er ist Lyriker, Essayist und Übersetzer aus dem Französischen und dem Portugiesischen, war Mitherausgeber der Zeitschrift «Idra». Mit seinem ersten Gedichtband «Concessione all'inverno» 1985 wurde er schlagartig bekannt. Aus dem Französischen hat er ein Grossteil des Werks von Philippe Jaccottet übersetzt.

Fabio Pusterla erhielt 1986 für sein Debüt den Premio Montale. Auch sein weiteres Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Premio Prezzolini und dem Premio Metauro, dem Gottfried Keller-Preis oder dem Vito Moretti Preis für sein Lebenswerk (siehe Bibliografie).

Porträt des Schriftstellers, SRF 1998: «Fabio Pusterla»

Dokumentarfilm von Francesco Ferri, 2018: «Libellula gentile – Fabio Pusterla»

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Vorwort

Federico Hindermann, dies sollte gleich zu Beginn gesagt werden, ist die bedeutendste zeitgenössische italienische poetische Stimme ausserhalb der Grenzen der Italophonie. Dennoch, sucht ein Schweizer Leser sein Profil im jüngsten Lexikon Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart (2002 in Aarau publiziert, wo Hindermann seit Jahrzehnten lebt), wird er enttäuscht: selbst wenn das Werk stolz behauptet, «sämtliche in der Schweiz tätigen Autorinnen und Autoren unabhängig von Nationalität» zu berücksichtigen, erscheint Hindermanns Name nicht, so wie er auch in vergangenen Editionen des Lexikons nicht erschien.

Ein Versehen? Bestimmt; dahinter verbirgt sich allerdings die Schwierigkeit, eine Figur in die Fibel der Literaturkritik einzuschliessen; eine Figur, welche die nationalen und sprachlichen Grenzen wie ein Phantom durchwandert, und wie ein Phantom dem oberflächlichen Blick entwischen kann, ohne niemals ganz zu verschwinden. Auch dem italienischen Leser ginge es nicht besser, suchte er nach einer Notiz unseres Phantoms in den Lyrikanthologien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: obschon er sechs Bände publiziert hat, allesamt in Mailand bei Scheiwiller (ein kleiner, aber exquisiter und prestigereicher Verlag), und alle Bände ein beachtliches Interesse seitens der Kritik fanden, bleibt Hindermann absolut abwesend. Ein Zeichen, in diesem Fall, der dürftigen Aufmerksamkeit der italienischen Kultur gegenüber ihren besten Interpreten, die ausserhalb der nationalen Szene leben. Lebte Hindermann in Mailand oder in Florenz, würde er offiziell als ein Meister seiner Generation betitelt.

Oder vielleicht auch nicht. Denn womöglich ist das Schweigen um seine intellektuelle Figur nicht nur ein Zeichen einer Irreführung der zeitgenössischen Kultur, sondern rührt auch von seiner Wesensart her, von seiner zurückgezogenen Haltung, welche die literarischen Salons und die nützlichen Bekanntschaften stets vermieden und hingegen die eigene Intensität in der konzentrierten Stille, in der Einsamkeit gesucht hat.

Quanto silenzio bisogna
aver ascoltato, quanto cielo negli occhi
avuto per risentire di l dalla stanza
la luce …
Wie viel Stille muss man gehört haben,
wie viel Himmel in den Augen gehabt,
um jenseits des Zimmers das Licht
wieder zu spüren …

 

Diese Verse stehen am Anfang der ersten Gedichtsammlung von Federico Hindermann, welche den Titel Quanto silenzio trägt und somit gleich zu Beginn aussagt, wie das poetische Wort aus einer stummen Erfahrung wächst, aus der notwendigen Gefahr eines endgültigen Verlustes. Schon der erste und zugleich berühmteste seiner Bewunderer, Pietro Citati, betonte dies, indem er vom jugendlichen Federico Hindermann sprach, als «jener etwas ältere Student, der hinter Tische und Bücher zu verschwinden versuchte, als wäre Verschwinden sein äusserster Wunsch». Und eben in dieser sanften Wildheit des Autors, welche unmittelbar aus seinen Versen hervortritt, besteht die Faszination, die den Leser als erstes trifft: Hindermann ist ein Autor, der sich nicht klar umschreiben lässt, der jedes Mal überrascht, weil er gewaltlos Regeln und Gewohnheiten bricht. So ist der Titel eines seiner Bücher ein Oxymoron, das eine allgemeine Bemerkung mit gleichzeitig poetischem, ethischem und politischem Charakter beinhaltet: Fügsam dagegen – Docile contro. Wir befinden uns vor einer radikalen Lyrik: radikal friedlich und gegensätzlich.

(…)

Quanto Silenzio | Wie viel Stille

Quanto Silenzio

Wie viel Stille

Quanto silenzio bisogna
aver ascoltato, quanto cielo negli occhi
avuto per risentire di là dalla stanza
la luce che allora faceva cantare sopra la boccia
i fiori di pisello appena colti
levati in volo sui verdi
raggi rifratti dei gambi,
e palpitare il vento d’ali di farfalle
rosa, turchesi, una stravolta, bianca
sorpresa in sogno.
Quanti giorni d’inverno indifferenti
durare dietro la porta socchiusa sperando
che trasalga quella voce ancora
e che non invano
vi saremo vissuti vicino.

Wie viel Stille muss man gehört haben,
wie viel Himmel in den Augen gehabt,
um jenseits des Zimmers das Licht
wieder zu spüren, das damals über der Glaskugel
die Erbsenblüten singen liess, die eben gepflückten,
zum Flug erhoben über den grünen
gebrochenen Strahlen der Stiele, das Licht,
das im Wind Falterflügel aufzucken liess,
rosarote, türkisblaue, einen verwirrten, weissen,
im Traum überrascht.
Wie viele Wintertage noch gleichgültig erdauern,
hinter halbverschlossener Tür hoffend,
dass jene Stimme wieder erbebe
und wir nicht vergeblich
neben ihr gelebt haben.

Tosse | Husten

Tosse

Husten

Tossisci, tosse, senza di me, non capisco,
ma ti radichi dentro e nei pensieri accennati
scuoti cani in letargo, abbaiano
dando l’allarme che nessuno sente
nel suo torpore incassato, il bavaglio
che intoppa per farti sapere se sono,
se ero, se con un ultimo ansito
cresce un ramo sbocciando davanti la casa,
spurgo verde sanguinolento da strazi,
da tante spine salvezza; il mattino
tornasse a cantare, lassù
l’allodola sovrastasse il sonno
con i grovigli di vermi.

Du hustest, du Husten, ohne mich, ich versteh’s nicht,
aber du schlägst Wurzeln in mir und in den kaum entworfenen
Gedanken weckst du Hunde im Schlaf, sie bellen
und schlagen Alarm, den keiner hört
in seiner abgekapselten Starre, der Knebel,
der hemmt, um dir zu sagen, ob ich bin,
ob ich war, ob mit einem letzten Keuchen
ein erblühender Ast vor dem Hause wächst,
wie ein grüner Auswurf, der aus Wunden blutet,
wie die Rettung, die von vielen Dornen kommt;
sänge doch der Morgen wieder, überragte
die Lerche dort oben den Schlaf
voller Wirrwarr von Würmern.

NZZ am Sonntag vom 15. Februar 2009
Die Zeit, 19. Februar 2009: Gedichtabdruck
Tessiner Zeitung Magazin, 9. April 2009
Stadt Zürich, Laudatio zur Anerkennungsgabe, 5. Dezember 2009
Orte. Schweizer Literaturzeitschrift Nr. 161, November/Dezember 2009

«Die Gedichte stehen in einer umfassenden humanistischen Bildungstradition und betören doch durch ihre unverstellte Anschaulichkeit. Hier ist die Metaphysik kein gelehrtes Spiel mit Zitaten. Sie ereignet sich im Alltäglichen. Die gewiss nicht von pekuniären Interessen geleitete Hindermann-Auswahl des Limmat Verlags verdient hohes Lob.» NZZ am Sonntag

«In Federico Hindermanns Gedichten berühren sich die kleinen bescheidenen Alltagsdinge mit den universalen Fragen. Er benennt das ganz Kleine mit seinem konkreten Dasein und verbindet es überraschend mit dem ganz Grossen, mit einer metaphysischen Tiefe oder kosmischen Weite. Durch dieses Verfahren, diesen Blick erhalten die kleine Dinge des Lebens, die schmerzhaftesten wie die mittelmässigsten, einen eigenen Glanz.» TZ Magazin

«Federico Hindermann gehört zu den Stillen im Lande und zählt doch zu den bedeutendsten Schweizer Lyrikern italienischer Zunge. Der Romanist und Essayist ist ein poeta doctus, und doch ist sein Stil nie akademisch, professoral, auch wenn seine Gedichte das Wissen um Jahrhunderte poetischer Tradition bergen. Der Band mit dem schönen Oxymoron-Titel ‹Fügsam dagegen / Docile contro› ist eine Gesamtschau seines lyrischen Lebenswerkes, seine Auszeichnung auch eine Hommage an die so reiche Literatur der italienischen Schweiz.» Stadt Zürich, Laudatio zur Anerkennungsgabe

«Seine Texte bestehen oft aus einem einzigen Satz, einem über zehn, zwanzig Zeilen hinweg durchgehenden Gedanken. Versmass, Reim- oder Klangspiele sucht man dabei vergebens, doch innerhalb dieses nüchtern-strengen Rahmens ist der Poet ein Meister des Spielerischen und betreibt eine skrupellose Verschwendung von Ideen, Bildern und Assoziationen. Virtuos durchschiesst Hindermann heutige Wirklichkeit mit den Querfäden ältester Tradition und schafft ein schillerndes Gewebe eigener Art. So fasst er dichte Schilderungen aargauischer Landschaft in Verse, die aus dem Wortgut der klassischen italienischen Poesiegefügt sind, und bewirkt so eine geradezu exemplarische Verfremdung des Wirklichen, durch die uns dieses zugleich vertrauter und unheimlicher wird.» Orte. Schweizer Literaturzeitschrift