Silvana Schmid
Süss & bitter
Lify Bucher 1899-1999. Ein Leben zwischen Bourgeoisie und Boheme
1., Aufl., Mai 2008
978-3-85791-552-9
Lify Bucher, Enkelin des Innerschweizer Hotelkönigs Bucher-Durrer, verbandelt mit dem Schokoladen-Klan Lindt&Sprüngli, ist 1899 geboren und 1999 gestorben. Sie wächst auf im elterlichen Grand Hotel am Mittelmeer, wird als Backfisch von Freischärlern aus Italien vertrieben und erwirbt im Pensionat in Neuchâtel das Rüstzeug für den Auftritt auf dem Heiratsmarkt. Doch es kommt anders als geplant.
Zwar lernt sie in Zürich den Mann ihres Lebens kennen – die Vernunft aber gebietet eine andere Wahl. Das Scheitern ihrer Ehe und der Zusammenbruch des Bucherschen Hotelimperiums zwingen sie, sich auf die eigenen Füsse zu stellen. Die beiden Weltkriege, der Börsenkrach, der Aufschwung der Sechziger- und die Emanzipation der Siebzigererjahre prägen ihr Leben und dasjenige ihrer Tochter, der Autorin Silvana Schmid. Mit 'süss&bitter' legt sie eine ganz persönliche Chronik des 20. Jahrhunderts vor anhand der wahren Geschichte einer Gratwanderung zwischen Bourgeoisie und Bohème.
© Gitty Darugar
Silvana Schmid
Silvana Schmid (1927–2024), aufgewachsen in Kilchberg bei Zürich, Lugano und Rio de Janeiro. Film-Übersetzerin, Redaktorin bei «annabelle», Mitbegründerin des Zürcher Journalistenteams «Presseladen», Tessiner Korrespondentin verschiedener Zeitungen und Pressechefin des Filmfestivals Locarno. Chefredaktorin der «Tessiner Zeitung». Publikationen: «Das rote Bologna» (zusammen mit Max Jäggi und Roger Müller), «Freiheit heilt. Bericht über die demokratische Psychiatrie in Italien» und «Loplops Geheimnis. Max Ernst und Leonora Carrington in Südfrankreich».Vorwort
Nach dem Tod meiner Mutter im Januar 1999 fragten mich Freundinnen und Verwandte gelegentlich, ob ich nicht über sie schreiben wolle. Sie sei eine so besondere Frau gewesen, man könne sie doch nicht einfach so gehen lassen. Das leuchtete mir auch ein, aber mir fehlte es an der nötigen Distanz. Und ausserdem fehlten mir auch vieleDaten und Fakten aus ihrem Leben, zu viele, um mich schreibend ernsthaft mit ihr zu befassen.
Dann aber entdeckte ich ihre alt vertrauten Fotoalben wieder. Und zum ersten Mal fiel mir auf, wie sorgfältig sie sich dokumentiert hatte, wie gewissenhaft sie Orte, Daten und Namen festgehalten hatte. Eine unerschöpfliche autobiografische Datenquelle!
Und so wagte ich den Kunstgriff, ihr Leben und, sofern sie es miterlebt hat, auch mein Leben aus ihrer Sicht zu erzählen. Dank dieser Umdrehung der Optik konnte ich die Distanz gewinnen, die ich brauchte, um die Person Lify Bucher zu rekonstruieren. Zumindest für mich neu zu erfinden – wenn auch getreu entlang ihren Lebensdaten und entlang den Wegmarken, die sie selbst in ihren Fotoalben gesetzt hat. Und natürlich auch in Tausenden von Gesprächen, in denen sie mir im Lauf ihres langen Lebens berichtet hat von ihrer Jugend, von ihrer Liebe und von ihrer Arbeit. Und auch von den Sorgen, die das Altwerden ihr bereitet hat.
Erstes Kapitel
Erstes Kapitel 1899 bis 1909 |
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17. Dezember 1899 |
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Amme Pasqualina mit Lisely, Dezember 1899 |
Louise Bucher stand am Fenster. Sie hatte einen Flügel geöffnet, um frische Luft in den überheizten Raum zu lassen. Der Nordwind fuhr knatternd durch die Blätter der haushohen Palmen, die ihr die Sicht auf den Hotelstrand verwehrten. Er setzte den Wellen weisse Krausen auf und peitschte sie weit hinaus ins Meer, wo sie verschwanden im grauen Dunst. Louise fröstelte. Mit einer energischen Bewegung schloss sie das Fenster. In einem Sessel an der hinteren Wand des kleinen Salons sass breitbeinig die Amme Pasqualina. Sie hatte das Mieder ihres Baumwollkleides aufgeknöpft, ihre weisse Brust wölbte sich über den Kopf des Säuglings in ihrem Schoss. Louise setzte sich in den Lehnstuhl beim Fenster und sah zu den beiden hinüber. Noch konnte sie nicht fassen, dass das Neugeborene in den Armen der Amme ihr Kind war, ihr viertes Kind, Margherita Luisa, geboren vor zwei Wochen, am 3. Dezember dieses letzten Monats des 19. Jahrhunderts. Die gänzlich unerwartete Schwangerschaft in ihrem vierzigsten Lebensjahr hatte Louises Leben durcheinandergerüttelt. Schon die ungewohnte Leibesfülle in den Monaten vor der Geburt hatte sie stark behindert. Noch störender aber war die Niederkunft zum unpassenden Zeitpunkt, mitten in den Vorbereitungen zu den Festlichkeiten der Jahrhundertwende, die im Hotel mit grossem Pomp gefeiert werden sollte. Ein Glück nur, dass damals im Mai, als der Hotelarzt die Schwangerschaft feststellte, auch Pasqualina ein Kind erwartete. So stand wenigstens fest, dass sie als Amme zu Diensten sein würde. Louise betrachtete Pasqualina in ihrem bunt geblümten Sessel mit einem fast zärtlichen Blick. Die kräftige junge Ligurin stammte aus einer alten Fischerfamilie. Sie hatte schon vor ihrer Heirat mit Ettore, einem am Strand des Hotels tätigen bagnino, im Haushalt des Ehepaares Bucher als Zimmermädchen gedient. Im Lauf der Jahre hatte sie sich zu einer Art Zofe für Louise entwickelt. Sie kümmerte sich um ihre Kleider und half ihr morgens bei der Toilette. Mit ihren geschickten Händen schnürte sie ihr das Korsett, bürstete ihr hingebungsvoll das gelockte hüftlange Haar und türmte es kunstvoll zu einer Tolle über Louises Stirn – das konnte keine so gut wie Pasqualina. Ausserdem besass sie die natürliche Diskretion, die mit der Herzensbildung vieler Italienerinnen einhergeht. Louise gefiel es, sich mit ihr zu unterhalten, wenn ihr das Herz schwer war. Wie an diesem kalten Wintermorgen. Wieder ruhte Louises Blick auf dem kleinen Luischen, Lisely wie ihr Gatte Theodor das Neugeborene gleich nach seiner Geburt zärtlich genannt hatte. Kann man, fragte sich Louise, kann man ein in Italien geborenes Kind wirklich Lisely nennen? «Pasqualina, was meinst du zu ‹Lisely›, sollen wir sie Lisely nennen?», wandte sie sich an die Amme. «Lisselli? Heisst sie nicht Margherita Luisa?» «Ja, so wollen wir sie taufen, aber mein Mann nennt sie ‹Lisely›.» «Wie reizend, Lisselli!» «Nicht Lisselli, du musst die erste Silbe betonen, Lisely mit einem sanften ‹s› und mit nur einem ‹l›!» «Lisseli?» Das ungewohnte Wort ging Pasqualina nur schwer von den Lippen. Etwas verlegen beugte sie sich über das Baby und wiederholte kichernd den sperrigen Namen. Dann knöpfte sie ihr Mieder zu, wischte mit einem Tuch die Milch von des Säuglings Lippen und hielt ihn aufrecht in den Armen, damit er sein Bäuerlein hören lassen konnte. Louise streckte ihre Arme aus: «Gib sie mir!» Pasqualina stand auf und reichte ihr das Bündel hinüber. Louise nahm es in die Arme – etwas fremd kam ihr das feuchte Fliegengewicht auf ihrem Schoss noch vor. «Ob daraus wohl je was Rechtes wird?», fragte sie, halb bekümmert, halb im Scherz. «Ach Signora, sie wird wunderbar werden, wie alle Ihre Kinder! Mit einer so guten Mutter und einem solchen Vater, da kann doch gar nichts schiefgehen!» Louise liess sich von der Schmeichelei der Amme trösten. Doch gleichzeitig zog die ganze Schar von Ammen, Kindermädchen und Hauslehrern, die ihr geholfen hatten, eine gute Mutter zu sein, an ihr vorbei. Und jetzt, elf Jahre nach dem Letzten, war da wieder eins, jetzt sollte die ganze Prozedur noch einmal von Neuem beginnen, ausgerechnet jetzt! Sie seufzte. |
«Aus grosser Nähe zur Hauptperson eine Biografie zu schreiben, ist ein riskantes Unterfangen, denn nur zu leicht unterliegt eine solche Darstellung der Verklärung. Die in Kilchberg ZH aufgewachsene Silvana Schmid, Mitbegründerin des Zürcher Journalistenteams Presseladen, hat diese Klippe beinahe unfallfrei umschifft. Das Buch über ihre Mutter, Lify Bucher, ist aus liebevoll-kritischer Distanz geschrieben. Obwohl man dahinter kein unkompliziertes Beziehungsmuster ahnt, stellt sich meist der erfrischende Eindruck ein, es handle sich um eine Person ausserhalb des Lebenskreises der Autorin.
Silvana Schmid schildert dieses Auf und Ab so anschaulich, dass man lesend von Anfang bis Ende fiebert, auch wenn einige politische und kulturgeschichtliche Exkurse zu ausführlich geraten sind. Und natürlich wirft man immer wieder gern einen Blick auf die atmosphärisch dichten Schwarzweissfotos, die im Buch auftauchen. Sie sind mehr als illustratives Beiwerk – sie vermitteln den Duft eines Lebens, einer Welt.» Neue Zürcher Zeitung
«Die Autorin Silvana Schmid hat mit dem Buch ‹süss & bitter› eine ganz persönliche Chronik des 20. Jahrhundets geschrieben. Sie schildert das Leben ihrer Mutter liry Bucher (1899-1999), einer Enkelin des Hotelkönigs Franz Joseph Bucher-Durrer.» Tessiner Zeitung
«Es ist kein leichtes Unterfangen, ein ausgewogenes Porträt der eigenen Mutter zu schreiben. Der Autorin und Journalistin Silvana Schmid, Mitbegründerin des Zürcher Presseladens, gelingt dies mit erfrischender Unbefangenheit. Erzählfreudig folgt sie den Höhen und Tiefen von Lify Buchers Gratwanderung zwischen Grossbürgertum und Bohème, mit einer respektvollen Mischung aus Nähe und Distanz rekonstruiert sie Schlüsselszenen, Leitmotive und Beziehungsmuster der mütterlichen Biografie. Und nicht zuletzt schafft die Objektivierung der eigenen Person eine modellhafte Erzählanlage, um die nachhaltig verstrickte MutterTochterBeziehung zu reflektieren.» Tages-Anzeiger
«Silvana Schmid geht den Weg zurück zu ihrer vor 10 Jahren verstorbenen Mutter mit Hilfe von akribisch dokumentierten Fotoalben, den erinnerten Gesprächen mit ihrer Mutter und ihren eigenen Erfahrungen.» Terz
«Das Buch ist mehr als nur Biografie, es ist eine persönlich gefärbte Chronik des 20. Jahrhunderts.» Klartext – Das Schweizer Medienmagazin