Keine mildernden Umstände
Jeremy Seabrook

Keine mildernden Umstände

Sexuelle Ausbeutung von Kindern und die internationale Strafverfolgung der Täter. 16 Fallgeschichten

Übersetzt von Annette Blum

208 Seiten, Broschur
November 2001
SFr. 34.–, 34.– €
vergriffen
978-3-85791-370-9

Schlagworte

Lebensgeschichten
     

Was kann dagegen getan werden, dass Mädchen und Jungen in asiatischen, osteuropäischen und anderen Ländern von Männern aus Westeuropa sexuell ausgebeutet werden? Bislang wenig. Doch in jüngster Zeit macht die internationale Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung der Täter grosse Fortschritte — nicht zuletzt dank der Bemühungen von Nicht-Regierungsorganisationen, die auf den Bereich Kinderschutz spezialisiert sind.  

16 Geschichten dokumentieren, wie Männer aus der Schweiz, Deutschland, Holland und anderen europäischen Ländern erstmals in ihren Heimatstaaten strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden konnten — für Verbrechen, die sie an Kindern in Asien und in Osteuropa verübten.

Jeremy Seabrook

Jeremy Seabrook

Jeremy Seabrook, ehemaliger Lehrer, Sozialarbeiter und Hochschuldozent, arbeitet seit 25 Jahren als Schriftsteller und Journalist in Grossbritannien und Indien. Beiträge für Theater, Fernsehen und Radio, zahlreiche Veröffentlichungen zu Entwicklungsthemen, insbesondere zur Migration und Urbanisation im Süden, u .a.: «The Myth of the Market» (Green Books); «Victims of Development» (Verso) und «Love in a Different Climate» (Verso). Seabrook hat eng mit Nichtregierungsorganisationen in Südasien zusammengearbeitet. Derzeit schreibt er Beiträge für den «New Internationalist» und «Race and Class» sowie für das «Third World Network» in Malaysia.

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Vorwort 7
Einleitung 9
Einführung in die Fallgeschichten 17

Auf der Spur der Straßenkinder
Jan van Schelling: Niederlande/Philippinen 27

Mädchenkauf in Manila
Cees Brijthuis: Niederlande/Sri Lanka 33

Der Wohltäter der Gemeinde
Leo van Engstraat: Niederlande/Philippinen 40

Auf der Urlaubsinsel
Tristram Bleicher: Deutschland/Philippinen 44

Ein Interessenkonflikt
Vinzenz Berger: Schweiz/Sri Lanka 49

Unklare Zuständigkeiten
Alexander Langenscheidt: Deutschland/Schweiz/Philippinen/Tschechische Republik 58

Die Brutalität der »Kinderfreunde«
Andreas Pfister und Theophilus Konrad Waldvogel: Schweiz/Sri Lanka 68

Schreckensherrschaft in Iloilo
Paul Maurer: Schweiz/Philippinen 75

Das Schweigen der Behörden
Marcel Thierry: Frankreich/Thailand 83

Ein Netzwerk der Korruption
Der Fall von Draguignan: Frankreich/Rumänien 89

Der Lehrer und der thailändische Junge
Marc Boonen: Belgien/Thailand 97

Die Flucht eines gefährlichen Mannes
Lode Claessens: Belgien/Sri Lanka 104

Ein kultureller Konflikt
Boris Bjorkmann: Schweden/Thailand 106

Der Botschafter und die Straßenjungen
Jonathan Hamilton: Australien/Kambodscha 117

Flucht nach Japan
Hsien Nayagoro: Japan/Thailand 126

Der Fall Großbritannien 132

Auswertung der Fallgeschichten 141

Empfehlungen 157
Soziale Ungleichheit und sexuelle Ausbeutung 168
Die Rechtssituation in Deutschland und der Schweiz 185
ECPAT 193
Literatur und Quellen 197
Register 199

Ausschnitte aus der Einleitung

Viele westliche Länder, aber auch Japan haben in jüngerer Zeit Gesetze geschaffen, auf Grund deren es möglich ist, Straftäter auch in ihrem Heimatland für Verbrechen an Kindern zu verhaften und vor Gericht zu stellen, die sie im Ausland begangen haben. Grund dafür war die wachsende Betroffenheit über privilegierte Männer (von denen ein Großteil aus dem Westen kommt), die mit der Absicht, Kinder sexuell auszubeuten, in Länder der Dritten Welt reisen. Bis Anfang der Neunzigerjahre konnte man gegen Straftäter, die in ihr Herkunftsland zurückgekehrt waren, nicht viel ausrichten. Ihre Anwesenheit wurde in den Ländern der Dritten Welt, die sich gerade für den Tourismus öffneten, ohnehin nicht als nachteilig wahrgenommen – sie galten als wohlmeinende Reisende und gaben sich häufig sogar als Wohltäter oder »Retter« für Kinder aus armen Familien aus.

Auch die Behörden in Zielländern, in denen ausdrücklich Gesetze gegen Kindesmissbrauch existierten, schreckten oft vor einer Strafverfolgung zurück, selbst wenn die Verbrechen an die Öffentlichkeit kamen. Die harte Währung, die diese Männer in die verarmten Regionen der Welt bringen, schien ihnen einen gewissen Schutz vor genauerem Hinsehen zu bieten. Die Polizei suchte sich häufig lieber einfachere Zielscheiben aus – Arme, die mit kleineren Vergehen gegen das Gesetz verstoßen hatten, oder kleine Händler, die Geld dafür bezahlen mussten, um ihre rechtmäßige Tätigkeit ausüben zu dürfen. Außerdem gab es eine starke Tendenz, die Schuld den Opfern in die Schuhe zu schieben. Selbst Kinder wurden als »Prostituierte« oder »Straßenkinder« kriminalisiert. Auch durch Korruption konnten sich viele Täter aus der Affäre ziehen – die Behörden ließen sich zum Teil mit Summen bestechen, die für wohlhabende Westler lächerlich klein sind. Das ganze Problem war in einem gewissen Ausmaß durch das weit verbreitete, legale und höchst einträgliche Sexgeschäft verdeckt.

Dass sich die Situation in den Neunzigerjahren so schnell verändert hat, verdankt sich vor allem der Arbeit etlicher regierungsunabhängiger Organisationen (NGOs) in den Zielländern der Kinderschänder. Diese haben im Westen ein Netzwerk von Sympathisanten aufgebaut, mit dessen Hilfe sie die Regierungen im Westen stark unter Druck gesetzt haben. Durch den gezielten Einsatz der Medien haben sie ein Thema profiliert, das zuvor – wenn es überhaupt wahrgenommen wurde – als nebensächlich galt, weil es nur wenige Individuen betraf.

ECPAT (End Child Prostitution in Asian Tourism, später erweitert auf End Child Prostitution, Child Pornography and Trafficking in Children for Sexual Purposes) hat in diesem Prozess eine Hauptrolle gespielt. Es hat sich schnell herausgestellt, dass die NGOs in den meisten Ländern eine offene Tür einrannten. Dadurch, dass in den westlichen Ländern selbst Fälle von sexueller Ausbeutung – im familiären Umfeld, in Kinderheimen, in staatlichen Kinderschutzbehörden – ans Tageslicht kamen, ist in der Öffentlichkeit die Abscheu vor solchen Verbrechen gewachsen. Zeitweise nahm die Abscheu derartige Ausmaße an, dass fast alle, die beruflich mit Kindern zu tun hatten, grundsätzlich einem Klima des Verdachts und Misstrauens ausgesetzt waren. Jedenfalls hat sich Anfang der Neunzigerjahre die Einstellung entwickelt, dass das, was zu Hause nicht toleriert wird, auch im Ausland nicht erlaubt sein darf. Man betrachtete es als Heuchelei, dass Straftäter für das, was sie in ihrem eigenen Land verbrochen hatten, streng zur Rechenschaft gezogen wurden, während sie im Ausland mit den wehrlosesten und schutzlos ausgelieferten Kindern anstellen konnten, was sie wollten.

...

Es gibt schon länger extraterritoriale Gesetze, mit denen bestimmte Straftaten verfolgt werden können, vor allem internationale Abkommen über Terrorismus, Drogen- und Waffenhandel und andere schwere Verbrechen. Mit dem Vorschlag, Angehörige westlicher Staaten für Sexualstraftaten, die sie im Ausland an Kindern begangen haben, in ihrem Heimatland festzunehmen, vor Gericht zu stellen und zu bestrafen, hat in Bezug auf Auslieferungsabkommen und grenzüberschreitende Kooperation ein neues Kapitel in der Strafverfolgung begonnen. Dieses Buch zeigt auf, wie schnell und effizient diese Initiative zum Erfolg führte, aber auch welche Hindernisse und Schwierigkeiten der Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Behörden aus ganz unterschiedlichen rechtlichen Traditionen, Wertesystemen und Kulturen entgegenstehen. Die hier aufgezeigten Erfolge sind einmal mehr das Verdienst der Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit der NGOs; die Misserfolge zeigen, wie viel Arbeit noch zu leisten ist.

...

Das vorliegende Buch richtet sich an alle, die mit dem Schutz von Kindern befasst sind, wo auch immer sie sein mögen. Es wirft Fragen auf, die enorme Auswirkungen auf das internationale Recht haben. Zugleich soll es aufzeigen, wie innerhalb einer zunehmend verflochtenen Welt neue Formen internationaler Kooperation aussehen könnten, und Probleme hervorheben, die aus einer wachsenden Ungleichheit in der Weltwirtschaft resultieren. Probleme, die am deutlichsten zwischen privilegierten Männern aus dem Westen und den am meisten missachteten und im Stich gelassenen Kindern in der Dritten Welt zu Tage treten.

Der Sinn dieser Falldarstellungen liegt nicht nur darin, den Kontext der Fälle zu erhellen, sondern auch darin, sie allen Interessierten zur Kenntnis zu bringen. Damit sind Lehrer, Sozialarbeiter, Polizeibeamte und Vertreter der Strafverfolgungsbehörden gemeint sowie diejenigen, die sich auf Regierungsebene oder in regierungsunabhängigen Organisationen mit den Beziehungen zwischen reichen und armen Ländern befassen, und diejenigen, die in der Entwicklungshilfe tätig sind.

Aus diesen Fallgeschichten ergeben sich auch andere Fragen. Eine davon betrifft die Beziehung zwischen der Bestrafung einiger Individuen, die Kinder verletzt haben, und dem schwerer zu fassenden Thema der sozialen Ungerechtigkeit. Eine Gesetzgebung, die die Verfolgung von sexueller Ausbeutung von Kindern erleichtert, ist kein Ersatz für die umfassendere Verantwortung der so genannten »internationalen Gemeinschaft« für die Bekämpfung der wachsenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich, denn diese Ungleichheit ermöglicht erst die hier beschriebenen Verbrechen.

Eine zweite Frage betrifft die Unterscheidung zwischen der Statuierung eines Exempels an den Tätern und der Sorge um die Kinder selbst. Die Welt darauf aufmerksam zu machen, dass ein solches Verhalten von Europa nicht toleriert wird, ist eine Sache. Für das Wohlergehen der Opfer Sorge zu tragen ist eine andere. Es hat den Anschein, dass es in den ersten Fällen vor allem darum ging, die Gesetzgebung unter Beweis zu stellen und ihre Effizienz bei der Verfolgung der Täter auszuloten. Das Schicksal der Kinder erscheint dagegen zweitrangig. Damit muss man sich befassen, wenn die Gesetzgebung nicht nur diejenigen für ihre Taten verantwortlich machen soll, die bisher weit gehend straflos Kinder sexuell ausgebeutet haben, sondern wenn sie auch eine ernst zu nehmende Waffe im Rüstzeug des Kinderschutzes darstellen soll.

Es ist offensichtlich, dass einige Länder die Täter unnachsichtiger verfolgt haben als andere. Bislang ist aus Großbritannien nur ein Fall bekannt und aus den USA kein einziger.

Sexuelle Ausbeutung von Kindern ist ein so heikles und abstoßendes Thema, dass es sich einem rationalen Zugang häufig entzieht. Diejenigen, die Kinder verletzt haben, müssen oft geschützt werden, sowohl vor öffentlichen Ausschreitungen als auch vor Übergriffen im Gefängnis. Die Gefühle, die Angriffe auf Kinder hervorrufen, sagen eine Menge über die Sensibilität und die Psyche von Gesellschaften aus. All das darf man nicht vergessen, wenn man über die Wirkung der Rechtssprechung nachdenkt, die sich als Herangehensweise an die im Folgenden geschilderten Verbrechen oft als stumpfes Werkzeug erwiesen hat.

Es ist unmöglich, diese Geschichten losgelöst vom Klima der Wut und Empörung zu sehen, das in den vergangenen Jahren im Westen die Diskussion über sexuelle Ausbeutung geprägt hat. Es liegt nicht in der Absicht dieses Buches, zu der Hysterie und Irrationalität beizutragen, die die Debatte überschattet haben. In Großbritannien wurde Anfang der Neunzigerjahre eine Serie von Fällen von Kindesmissbrauch aufgedeckt, in denen scheinbar »Satansriten« eine Rolle spielten. Obwohl sich die Panik, die dadurch ausgelöst wurde, als weit gehend unbegründet erwiesen hat, ist mit der Verfolgung der Täter auch immer ein Fünkchen Hexenjagd untrennbar verknüpft. Es ist wichtig, einen klaren Blick zu behalten, und die Unpersönlichkeit des Gesetzes trägt dazu bei.

Die extraterritoriale Gesetzgebung ist ein wirksames Instrumentarium, um Kinderschänder, die in arme Länder reisen, um schutzlose Wesen auszubeuten, in Schranken zu weisen, aber ein »Allheilmittel« für das Problem ist sie nicht. Sie kann nur ein wichtiges Element in einer breiter angelegten Strategie sein, die letztendlich auch beinhalten muss, dass das große Wohlstands- und Machtgefälle zwischen Täter und Opfer abgebaut wird. Man wird wenig gegen das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern ausrichten können – das die einzelnen Verbrechen so unannehmbar macht –, aber wenn es darum geht, die große soziale und wirtschaftliche Kluft zu verringern, die ein wesentlicher Faktor für das Möglichwerden der hier beschriebenen Taten ist, ist Fatalismus fehl am Platz.

Angesichts des hohen Stellenwerts, den das Thema in den vergangenen Jahren erlangt hat, und der Tatsache, dass die Täter aus allen reichen Ländern der Welt kommen, ist es ohne Zweifel nur eine Frage der Zeit, bis auch in Großbritannien und den USA die Zahl der erfolgreichen Strafverfahren zunehmen wird. Aber das ist Zukunftsmusik. Gegenwärtig stellen die hier beschriebenen Geschichten bei all ihren Unzulänglichkeiten bahnbrechende Fälle dar.

Jeremy Seabrook
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