Alles und jedes hatte seinen Wert
Martha Farner

Alles und jedes hatte seinen Wert

Mit einem Nachwort von Laure Wyss

128 Seiten, gebunden, 20 Abbildungen
August 2000
vergriffen
978-3-85791-352-5
     

Martha Farner erzählt genau und liebevoll, wie es damals im Schwyz ihrer Kindheit und Jugend war. In schlichter und präziser Sprache berichtet sie über das werktägliche Leben zu Anfang des Jahrhunderts: Waschtage, Fahrende, die Grabbeterin, den Zahnarzt, der auch ein Schmuckhändler ist, die Fastenzeit, Bergbäuerinnen und anderes mehr.

Martha Farner
© Limmat Verlag

Martha Farner

Martha Farner, geboren 1903 in Schwyz. Nach dem Tod ihres ersten Gatten bildete sie sich 1930 als Heimweberin aus und arbeitete anschliessend als Weblehrerin mit Bergbauernfrauen im Kanton Schwyz. Ende der siebziger Jahre begann sie mit der Aufzeichnung ihrer Erinnerungen. Martha Farner starb 1982.

mehr...

Laure Wyss
© Ruth Vögtlin

Laure Wyss

Laure Wyss ist am 20. Juni 1913 in Biel/Bienne geboren und dort in die Schule gegangen. Nach der Matura (1932) Sprachstudium in Paris, Zürich, Berlin. Abschluss in Zürich, Lehrerinnenpatent für Deutsch und Französisch, Heirat. Die Kriegsjahre erlebt sie in Schweden und Davos. Sie übersetzt für den «Evangelischen Verlag», auf Anregung des Leiters Arthur Frey aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen Widerstandsschriften der skandinavischen Kirchen gegen die deutsche Besatzungsmacht.

1945 Scheidung und fortan in Zürich wohnhaft. 1946 –1948 Redaktorin beim «Schweizerischen Evangelischen Pressedienst». 1949 Geburt eines ausserehelichen Kindes und freie Journalistin. 1950—1962 als Redaktorin beim «Luzerner Tagblatt»; 1958—1967 Redaktorin beim Schweizer Fernsehen. Sie gestaltet das erste Programm für Frauen, später die Diskussionssendung «Unter uns». 1962 tritt Laure Wyss in die Redaktion des «Tages-Anzeigers» ein. 1970 Mitbegründerin des «Tages-Anzeiger Magazins». Seit ihrer Pensionierung 1976 als Schriftstellerin und freie Journalistin für Zeitungen und Radio tätig. Für ihre literarische Arbeit wird sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Werkjahr der Max-Frisch-Stiftung, dem Grossen Literaturpreis des Kantons Bern und der Goldenen Ehrenmedaille des Kantons Zürich. Laure Wyss starb am 21. August 2002 in Zürich.

 

Zur Biografie von Laure Wyss siehe auch:

Barbara Kopp: Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten

Ernst Buchmüller: Laure Wyss. Ein Schreibleben, DVD

Corina Caduff (Hg.): Laure Wyss: Schriftstellerin und Journalistin

mehr...

Alles und jedes hatte seinen Wert, nichts wurde weggeworfen

Über die Fecker

Die Grabbeterin in Schwyz — es war ein anspruchsvoller Beruf

Fastenzeit in Schwyz

Vetter Stutzer

Zahnärztliches von damals

Zwei Schwestern

Zingle

Waldegg

Vater L. oder das Milchbänkli

Martha Farner
Porträt von Laure Wyss

Alles und jedes hatte seinen Wert, nichts wurde weggeworfen

Im Frühjahr und im Herbst war der grosse Waschtag, das heisst, alle grossen Wäschestücke wie Leintücher, Tischtücher, Bettanzüge wurden nur zweimal im Jahr gewaschen. Dies bedingte eine grosse Aussteuer der Braut, und in der Tat war es ein «Puntenöri» (Ehrensache) einer jeden Braut, eines jeden Mädchens, soviel wie nur möglich für die Aussteuer zu sammeln; es gab sogenannte Aussteuer-Truhen, in welchen man alles aufbewahrte, wie Eichhörnchen die Nüsse vor der Winterszeit. Ich kenne Frauen, welche bis zu zwölf Dutzend Leintücher in die Ehe brachten. Meine Mutter brachte 86 Paar handgestrickte Strümpfe in die Ehe, aus ganz feinem blauweissem Leinen gestrickt. Sie passten ausgezeichnet zur FHD-Uniform, und meine Schwester trug sie während des Krieges zur Arbeit als Fahrerin. Entsprechend den Leintüchern auch ebenso viele Tischtücher, vom Damast bis zu den Werktagstischtüchern, die aus Baumwolle waren; ungezählte Servietten, Handtücher, Unterwäsche, von Taschentüchern nicht zu reden, lagen doch zwischen den beiden Wäschen fünf bis sechs Monate. Zwischendurch gab es die sogenannte «Kinderwäsche» einmal im Monat, wo man Nötiges noch beilegen konnte, aber strikte waren die beiden Frühjahrs- und Herbstwäschen.

Die Hauptperson und Verantwortliche für die gesamte Wäsche war die «Sechterin». Was dieses Wort bedeutet, werden wir später lesen. Also die Sechterin kam am Stephanstag (26. Dezember) zur Herrschaft, brachte gleich den Zugerkalender mit, um diese wichtigen Waschtage einzuschreiben, denn es warteten noch viele andere Frauen auf das Eintragen in den Kalender. Natürlich wurde diese Frau gut bewirtet mit Kaffee oder Wein, Käs' und Brot oder Süssem, je nach Jahreszeit. Die Sechterin hatte viele Aufgaben und war eigentlich die Regentin in der Waschhütte.

Die Waschhütte befand sich meistens in einem Nebengebäude, im «Büüli» oder «Schopf», oder in der Dorfwaschhütte, welche allen Frauen zugänglich war.

Die grosse Vorbereitung begann mindestens eine Woche vor der Wäsche. Die hölzernen Zuber mussten «verlächt» werden, d.h. die Zuber hatten offene Spälte, also legte man sie ins Wasser; es waren deren viele und in allen Grössen, runde und ovale. Der grösste Zuber, in welchem gesechtet wurde, hiess «Stande? und konnte nur mittels eines hölzernen Kännels bewässert werden; er war mindestens 1,50 mal 2 Meter gross. Es brauchte einige Tage, bis diese Stande das Wasser nicht mehr durchliess.

Eine weitere Vorbereitung war das Einweichen der Wäsche. Im Estrich waren exakt an Eisenhaken Holzstangen angebracht, wo man die schmutzige Wäsche das Halbjahr durch «verlüften» liess. Alles schön geordnet: die Leintücher, die Baumwollenen, die Tischtücher, die Servietten, die kleine Bettwäsche, Herrenhemden und so fort. Die Dienstwäsche hing an einer extra Stange, in einem Sack die Monatsbinden. Aus den groben Leintüchern band man mit der sortierten Wäsche Bündel und schlitterte diese über das Treppenhaus in die Waschhütte hinunter, wo alles schön verteilt in den Holzzubern eingeweicht wurde. Dies mindestens zwei Tage vor dem Beginn des Waschtages. Es gab ja damals noch kein Waschpulver, welches «schaumleicht» die Flecken wegzauberte.

Die Sechterin, eben die Regentin der Wäsche, dingte noch drei Wäscherinnen für diesen Termin. Ausser diesen kam vor der Wäsche immer das Bethli — sie war verantwortlich für das richtige Einweichen, später auch für das Spülen und Stärken der Wäsche. Die Herrenhemden waren stets die Hauptsache; denn so ein Ratsherr oder Landammann musste eine gut gestärkte Hemdenbrust und Manschetten haben ? also kam Bethli mindestens einen Tag vor der Wäsche.

Nebst allem traf man im Haushalt Vorbereitungen für die fünf zusätzlichen Esser (wir waren bereits eine Grossfamilie); nach althergebrachter Meinung »zehrt» das Wasser und macht Hunger. Ohne Auto, mit Handwägeli — oder der Knecht mit Ochsengespann — holte man alles aus dem Dorf, was nötig war. Es brauchte vieles, denn eine Waschfrau hatte im Tag sechs Essen: Morgenessen, Znüni, Zmittag, Zabig, Zfüfi und das Nachtessen. Znüni und Zfüfi brachte man in die Waschhütte, die andern Mahlzeiten wurden in der Küche serviert.

Hier die Menukarte: Morgenessen um halb sieben Uhr: Milchkaffee, Brot, Butter, Confiture und Biräschnitz. Um neun Uhr: ein Glas Wein (leichter), ein Stück Kuchen. Mittagessen: Suppe, Fleisch, Gemüse, Kartoffeln, gekochte Äpfel. Um 3½ Uhr (Zabig): Milchkaffee, Brot, Käse und gekochte Schnitz. Um fünf Uhr (eben Zfüfi): ein Glas Wein, ein Stück Kuchen (Griess oder Polenta). Nachtessen: wer wollte, Suppe oder Milchkaffee mit Butter, Käse und Confiture, gesottene «Gumeli» (Kartoffeln) durften nie fehlen.

Erster Waschtag

Am ersten Waschtag kamen ausser dem Bethli nur zwei Wäscherinnen. Frühzeitig, ich möchte sagen um fünf Uhr, musste in der Waschhütte Feuer gemacht werden, wenn die Frauen um sieben Uhr die «Arbeit in die Hände nahmen», so kann man wohl sagen! Die eingeweichte Wäsche wurde Stück für Stück vorgewaschen und besonders schmutzige Stellen mit guter Kernseife eingerieben (Weinflecken, Herrenmanschetten usw.) und wieder wohlgeordnet in die Zuber gelegt, jede Sorte für sich. So den ganzen Tag.

Zweiter Waschtag

...

«Ihre Erinnerung ist so genau, ihre Sprache so träf, dass aus ihrer Schilderung eine Art Volkskunde der Innerschweiz zu Beginn dieses Jahrhunderts entstanden ist.» Die Weltwoche

«Laure Wyss stellt in ihrer unnachahmlichen persönlichen Art Martha Farner vor und schildert die Höhen und Tiefen des Lebens der Schwyzer Patrizierin, die einen kommunistischen Intellektuellen geheiratet hatte.» Tages-Anzeiger

«Sie wuchs in Schwyz auf, im herrschaftlichen Maihof, verlor 1931 nach sechs Jahren Ehe mit 28 Jahren ihren Mann, heiratete zehn Jahre später ein zweites Mal: den marxistischen Intellektuellen Konrad Farner. Mit ihm durchlebte Martha Farner, geborene Gemsch, verwitwete von Reding, die Jahre der Anfeindung und des Pogroms von Thalwil. ‹Er hat ja nichts anderes gemacht, ausser dass er Marxist war und Bücher schrieb›, sagte sie im Rückblick. In den Dreissiger- und Vierzigerjahren belebte sie im Raum Schwyz das Weben, half den Frauen, ihre eigenen Stoffe zu kreieren, durch Heimarbeit zu Geld und Selbstständigkeit zu kommen. Und sie schrieb volkskundliche Texte über das Leben und Werken damals in Schwyz. Eine Sammlung dieser Texte ist 1986 erstmals erschienen, ergänzt mit einem Porträt der Autorin von Laure Wyss. Eine Neuauflage des Bändchens ist jetzt mit Fotos ausgestattet, die das Erzählte noch anschaulicher machen.» Neue Luzerner Zeitung

«All diesen furchtbaren Erlebnissen zum Trotz hat sich die tapfere Frau, die dem Land eine komplette Sammlung über die Geschichte der Schweizer Weberei hinterliess, nicht unterkriegen lassen und behielt ihre Würde, so, wie sie die Leute in ihren Geschichten porträtiert. Dieses Buch müsste eigentlich zur Pflichtlektüre im Unterricht erklärt werden.» Schaffhauser Nachrichten

«Die Texte sind mit Persönlichem und Lokalem durchwirkt, und in der Sprache lebt die dialektale Fügung und Musik weiter. Man entdeckt herrliche Wortprägungen wie etwa das ‹Puntenöri› (Point d'honneur), welches die schwyzerischen Reisläufer als sprachliches Importgut in die Heimat zurückgebracht haben. Die einzelnen Figuren dieses Schwyzer Kosmos, alle längst dem Totenreich zugehörig, gewinnen ihr Leben zurück - der Apotheker und der jüdische Zahnarzt C. Ginsberg (der Letztere eine singuläre Erscheinung innerhalb der geschlossenen Katholizität), das fahrende Volk der ‹Fecker›, vor allem aber all jene Bergbäuerinnen in ihrer matriarchalen Würde, die Martha Farner als Weblehrerin angeleitet und denen sie in den dreissiger Jahren den dringend notwendigen Zusatzverdienst ermöglicht hat.» Neue Zürcher Zeitung