Briefe nach Feuerland
Laure Wyss

Briefe nach Feuerland

Wahrnehmungen zur Schweiz in Europa

120 Seiten, gebunden, // Nur noch letzte RESTEXEMPLARE aus dem Verlagsarchiv, bitte wenden Sie sich an den Verlag.
August 1997
vergriffen
978-3-85791-288-7

Schlagworte

Politik Restexemplare
     

Laure Wyss nähert sich dem Verhältnis der Schweiz zu Europa an, wie sie es in ihrer Arbeit als Journalistin immer getan hat: Sie geht dorthin, wo es in der Realität erfahrbar ist, in eine Familie von Ausländern, zu Grenzposten, nach Strassburg und Brüssel. Unvoreingenommen schaut sie hin, sieht, was nicht alle sehen, und erzählt in zehn Briefen an Freunde in Feuerland davon. Hinter dem einzelnen Erlebnis wird das Allgemeine sichtbar, und manches erscheint in einem neuen Licht. Vielfältige Erinnerungen aus einem langen, bewussten Leben mischen sich ebenso in die Beschreibungen ein wie pointierte Aussagen über andere Bücher zu diesem Thema.

Genau registrierte Erfahrungen eröffnen überraschende Einsichten in ein aktuelles Thema. Laure Wyss lässt uns die Schweiz in dieser Welt besser verstehen.

Laure Wyss
© Ruth Vögtlin

Laure Wyss

Laure Wyss ist am 20. Juni 1913 in Biel/Bienne geboren und dort in die Schule gegangen. Nach der Matura (1932) Sprachstudium in Paris, Zürich, Berlin. Abschluss in Zürich, Lehrerinnenpatent für Deutsch und Französisch, Heirat. Die Kriegsjahre erlebt sie in Schweden und Davos. Sie übersetzt für den «Evangelischen Verlag», auf Anregung des Leiters Arthur Frey aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen Widerstandsschriften der skandinavischen Kirchen gegen die deutsche Besatzungsmacht.

1945 Scheidung und fortan in Zürich wohnhaft. 1946 –1948 Redaktorin beim «Schweizerischen Evangelischen Pressedienst». 1949 Geburt eines ausserehelichen Kindes und freie Journalistin. 1950—1962 als Redaktorin beim «Luzerner Tagblatt»; 1958—1967 Redaktorin beim Schweizer Fernsehen. Sie gestaltet das erste Programm für Frauen, später die Diskussionssendung «Unter uns». 1962 tritt Laure Wyss in die Redaktion des «Tages-Anzeigers» ein. 1970 Mitbegründerin des «Tages-Anzeiger Magazins». Seit ihrer Pensionierung 1976 als Schriftstellerin und freie Journalistin für Zeitungen und Radio tätig. Für ihre literarische Arbeit wird sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Werkjahr der Max-Frisch-Stiftung, dem Grossen Literaturpreis des Kantons Bern und der Goldenen Ehrenmedaille des Kantons Zürich. Laure Wyss starb am 21. August 2002 in Zürich.

 

Zur Biografie von Laure Wyss siehe auch:

Barbara Kopp: Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten

Ernst Buchmüller: Laure Wyss. Ein Schreibleben, DVD

Corina Caduff (Hg.): Laure Wyss: Schriftstellerin und Journalistin

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Dies ist der zweite Brief: Papiere sind Papiere

Liebe Freunde,
ich werde mich kürzer fassen in meinen nächsten Briefen, denn diese enthalten nichts anderes als Beobachtungen darüber, wie sehr sich in letzter Zeit alles bei uns verändert hat. Davon scheint Ihr nichts zu wissen, weil Ihr seit vielen Jahren Eure Ferien nicht mehr hier verbringt. Um nicht nur von dem zu berichten, was grad vor meiner Türe liegt, bin ich ein wenig herumgereist, denn ich hielt es für wichtig, einen schweizerischen Augenschein zu nehmen, bevor ich mich ins europäische Thema einlasse.

Also vorerst einige Szenen: Letzten Sommer einmal hatte ich den Tisch gedeckt für die Tochter und die zwei Söhne einer Freundin, die kürzlich gestorben war, der Piaia Lina. Wir wollten bei einer gemeinsamen Mahlzeit über Signora Lina reden, ihrer gedenken, auch an Iginio wollten wir denken, den Steinhauer, der ein paar Monate vor seiner Frau gestorben war. Beide nun begraben in ihrem Heimatdorf in der Provinz Belluno im nördlichen Italien. Sie hatten es sich so gewünscht, beide, obschon sie Emigranten geworden waren, weil ihr Vaterland sie nicht hatte ernähren können, und obschon, nach vielen harten Arbeitsjahren in der Schweiz und der langen Sehnsucht, im heimatlichen Dorf letzte Jahre zu verbringen, die Rückkehr enttäuschend gewesen war. Trotz eines eigenen Hauses dort konnten sie nicht mehr Fuss fassen, waren Fremde geworden, kannten niemanden mehr, wurden auch nicht mit offenen Armen aufgenommen, so pendelten sie, krank geworden und geschwächt, zwischen der Schweiz und der Provinz Belluno her und hin. Doch darüber wurde jetzt nicht geredet, die Enttäuschungen, die Konflikte der Eltern wurden von den erwachsenen Kindern nicht erwähnt, sie wollten mir, in Verehrung und nun in Trauer, von den letzten Tagen ihrer Eltern erzählen und wie die Beerdigungen stattgefunden hatten.

Ich hörte zu und fragte vieles. Aber dazwischen drängten sich meine Erinnerungen an Vergangenes, nämlich wie Signora Lina in mein Leben gekommen war, zum Aufräumen, zum Putzen, zum Kochen. Die kleine, schmale Frau, bescheiden, fleissig, es hatte lange gedauert, bis sie sich nicht immer selber wegwischte, sondern erzählte von ihren Schwierigkeiten, ihren Sorgen, und bis sie ihr Töchterchen mitbrachte, das nach dem Schulabschluss aus Italien zur Familie gekommen war, die Brüder in einer guten Lehre, für die kleine Francesca suchten wir dann zusammen eine. Immer hatte sich die Lina geduckt, um ja nicht aufzufallen, um ja nichts Unrichtiges zu machen im fremden Land, in der Schweiz, der sie so ungeheuer dankbar blieb, weil sie an ihrer ersten Stelle, so erzählte sie, so viel Milch hatte trinken können, wie sie wollte. Und sie hat wohl nie ganz verstanden, wie sehr ihr Mann, der Iginio, der Steinhauer, darunter litt, immer mehr darunter litt, dass er auf dem Bau schwere Arbeit verrichtete, zwar einen genügenden Lohn nach Hause brachte, aber nie das Handwerk ausüben konnte, für das er begabt war, das ihm Freude machte, Steine behauen und einen Ofen bauen, zum Beispiel. Das tat er dann später, fürs Haus in Italien, das seine Söhne errichtet hatten, da war er aber schon ein gebrochener Mann und krank. Und Signora Lina hatte auch nicht mehr die Kraft gehabt, im neuen eigenen Haus zu wohnen und es zu pflegen, wie sie es gern getan hätte, auch fürs Heuen am Hang, das sie so sehr liebte, war sie zu müde. Ein Elend, das Ganze, wenn man's bedenkt. Ich war mir gegenüber dieser Familie mit ihren feinen Umgangssitten und der diskreten Anhänglichkeit immer sehr privilegiert vorgekommen, beheimatet und im Klee sitzend, gab Auskünfte und Ratschläge, die vielleicht alle ins Leere liefen, weil ich ja die schwierige Lage dieser Emigranten nicht grundsätzlich ändern konnte. Aber nach Jahren stellte ich fest, wie reich mein Alltag geworden war durch diese Piaia Lina, ihren Mann, den Iginio, und die drei Kinder. Und ich fühlte mich ausgezeichnet wie mit einem hohen literarischen Preis, als der schwerkranke Ehemann der Lina, in einem unserer Spitäler liegend, bei meinem letzten Besuch zu mir gesagt hatte: «Lei aveva sempre la parola giusta per me.» («Sie haben für mich immer das richtige Wort gefunden.»)

Nun sassen sie da, die beiden Söhne mit der jüngern Schwester, die mit Mann und Kindern daheim in Italien ihre eigene Existenz aufgebaut hatte und nun in die Schweiz gekommen war, um mit den Brüdern die Elternwohnung aufzuräumen, und beredeten viel. Sie sahen schön und gepflegt aus, die drei Geschwister, und sie hatten nicht eine Spur von ihren feinen Sitten verloren. Still und tüchtig hatten sich die Brüder im fremden Land an ihren Arbeitsplätzen behauptet und immer weiter gelernt. Sie kannten nun aber ihre Rechte auch selbst, sie wehrten sich, wenn sie übervorteilt wurden. Sie liessen sich nichts mehr gefallen. Und wie nebenbei fügten sie hinzu: «Wir gehen weg, wenn man uns nicht mehr will oder wenn man unkorrekt mit uns umgeht, wir können ja jetzt überall in Europa arbeiten.» Und sie zeigten mir ihre neuen Pässe, ihre italienischen Papiere sind jetzt Europa-kompatibel, auf dem Umschlag ist so ein «passaporto» bezeichnet mit «Comunità Europea, Repubblica Italiana», und er eröffnet neue Möglichkeiten, eine grössere Arbeitswelt für die beiden italienischen Brüder.

Meinen roten Pass hole ich nun schon gar nicht zum Vergleich herbei, mit meinem roten nämlich bin ich kräftig ins Abseits gerutscht. Da hatte ich mich neulich auf einer Reise nach London vor der englischen Passkontrolle in die Reihe der «others» zu rangieren, und die rückt sehr viel langsamer vorwärts als die Schlange der «Europeans». Es ist zur Kenntnis zu nehmen, wir sind keine Europäer. Ärgerliche Gedanken ans hinterwäldlerische Vaterland sind nutzlos. Aber Zorn steigt auf, wenn Miteidgenossen in dieser Schlange laut schimpfen, sie würden behandelt wie Neger oder wie braune und gelbe Asiaten, das sei ja unerhört, jenen gleichgestellt zu werden. Da schäme ich mich sehr wegen meiner Landsleute, drehe mich um und sage höflich: «Darf ich fragen, was Sie abgestimmt haben im Dezember 1992, waren Sie für oder gegen den Beitritt der Schweiz zum ewr (dem Europäischen Wirtschaftsraum)?» Verdutzte Gesichter, das jetzt reklamierende Ehepaar war, da gute Patrioten, natürlich dagegen. «Das sind die Folgen, bitte», sage ich. Dann aber, bestimmter: «Und Rassisten scheinen Sie auch noch zu sein, Sie fühlen sich wegen Ihrer Hautfarbe besser als dunkle Menschen. Ist Ihnen klar, dass bei uns aufgrund einer Volksabstimmung seit dem Januar 1995 ein Antirassismus-Gesetz in Kraft ist? Diese neuen Artikel unserer Strafnorm haben wir offensichtlich sehr nötig.»

Ein Kollege, weiter vorn in der Schlange, lächelt nachsichtig nach hinten zu mir, er hat dem Geplänkel zugehört. Sein Lächeln gerät jedoch etwas schief, denn er ärgert sich darüber, dass seine Frau, mit der zusammen er im Flugzeug gesessen ist, schon vor fast einer Viertelstunde die Passkontrolle passiert hat, also schon lange in England ist und jetzt, jenseits der Grenze, die für sie keine mehr ist, auf ihn wartet, denn sie hat ihren ursprünglichen deutschen Pass vorgezeigt, ist also Europäerin. Und ihre beiden Söhne, die in künstlerischen Berufen in Deutschland tätig sind, haben das deutsche Bürgerrecht ihrer Mutter angenommen, mit dem schweizerischen des Vaters bekämen sie bloss Unannehmlichkeiten. Das verstehe ich jetzt gut, und ich überlege mir, langsam vorrückend: Wenn ich ein Schreibleben noch vor mir hätte, würde ich vielleicht auch an eine andere Staatsbürgerschaft denken, eine, die mir mehr Bewegungsfreiheit verspräche. Ach, unsere Kurzsichtigkeit zu Hause, diese Bretter vor dem Kopf, die den Blick ins 3. Jahrtausend behindern. Weil wir immer noch an unsern Tell denken? Ich will aber nicht vorgreifen, der Tell kommt später an die Reihe.

Und wenn Ihr jetzt lacht über mich und uns, liebe Freunde, habt Ihr recht. Ich muss Euch noch schnell gestehen, dass ich mir, um nicht bei jedem Grenzübergang im Gesicht so rot anzulaufen, wie mein Pass rot ist, eine Identitätskarte habe machen lassen, einen amtlichen Ausweis des Bundesamtes für Polizeiwesen, die ist klein, handlich und gibt sich nicht so eingebildet wie das rote Büchlein, das nachgerade keinen Grund mehr auf seine Einbildung hat.

Dass sie so freundlich und rasch ausgestellt wird, dass sie nur 35 Franken kostet und eben auch ihre Handlichkeit sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass so ein Legitimationsdokument der militärischen und politischen Kontrolle dient und dass wir jetzt unsichtbarer, weil elektronisch, kontrolliert werden können, also besser überwacht sind als je zuvor. Und deshalb leichter manipulierbar werden? Diese Frage bleibt offen.

Viele Grüsse, und auf bald.

«Sie schreibt Briefe an Schweizer Freunde in Feuerland und erklärt den ‹Fernen, Ausgewanderten› – und sich mit ihnen – was es mit der Schweiz und Europa auf sich hat. Distanz und Nähe – aus diesem Wechsel an derf Perspektive gewinnen die Briefe ihre Kontur. Laure Wyss schafft sich Distanz, weil sie der allzu grossen Nähe misstraut ... Sie plädiert nicht leichtfertig für eine Öffnung. Wissen will sie, warum sie es tut.
Der letzte Brief endet mit einer Warnung und einer Liste ‹Gegengifte zu faschistischen Entwicklungen›. Dazu gehören regelmässige Übungen in sozialem Mut, dazu gehört das ‹Festhalten am Programm der Aufklärung›. Beides ist Teil von Laure Wyss' eigenem Lebenskonzept – von jeher schon.» Klara Obermüller, Die Weltwoche

«Die passionierte Journalistin Laure Wyss hat die Mühe nicht gescheut, nach Brüssel und nach Strassburg zu reisen und sich europäische Institutionen von innen anzuschauen. Als Zuhörerin von Sitzungen des Europarates kommt sie zu dem Schluss, dass ausgerechnet die europaresistente Schweiz viel bessere Voraussetzungen als manch europaenthusiasmiertes Land (wie etwa Deutschland) mitbringt, am Prozess der europäischen Integration belebend teilzunehmen. Nicht nur die Mehrsprachigkeit hat sie dafür gut vorbereitet, sondern auch die gewachsene Erfahrung im Ertragen von ungleichen Nachbarn. ‹Vielleicht›, schreibt sie am Schluss ihrer klugen und nachdenkenswerten Briefe nach Feuerland, ‹stellt Ihr fest, dass ein kleines Land, das selbstkritisch zu seiner eigenen Geschichte steht und seine demokratischen Traditionen ernst nimmt und versucht, sie diszipliniert weiterzupflegen, gerade deshalb dem Lauf Europas gewachsen ist.›» Lothar Baier, WOZ

«Unvoreingenommen nähert sich Laure Wyss in ihrem neuesten Buch dem Verhältnis der Schweiz zu Europa an. Und zwar dort, wo dieses Verhältnis in der Realität erfahrbar ist: in einer Familie von Ausländern, bei Grenzposten, in Stassburg oder in Brüssel. ... Die Leidenschaft mit der sich die Autorin 1997 zur Anwältin in Sachen Europa macht, beeindruckt und ist nachahmenswert.» Zürichsee-Zeitung

«Allerdings sollte man dieses Buch nicht als innere Angelegenheit der Schweiz abtun: Gerade die Gedanken der Autorin zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus haben Gültigkeit auch jenseits der Grenzen – sie haben geradezu europäische Dimensionen. » Generalanzeiger

«Als gelernte und passionierte Journalistin hat Laure Wyss trotz ihres hohen A1ters die Mühe nicht gescheut, nach Brüssel und nach Strassburg zu reisen und sich europäische Institutionen von innen anzuschauen. Beim Verfolgen von Sitzungen des Europarats kommt sie zu dem Schluss, dass ausgerechnet die europaresistente Schweiz viel bessere Voraussetzungen als manches ihrer Nachbarländer mitbringt, sich in den Prozess der europäischen Integration einzufügen. Nicht nur die Mehrsprachigkeit hat sie dafür gut vorbereitet, sondern auch, wie Laure Wyss sagt, die lange ‹Erfahrung im Ertragen von ungleichen Nachbarn›.» Lothar Baier, Süddeutsche Zeitung

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