Daskind – Brandzauber – Angeklagt
Mariella Mehr

Daskind – Brandzauber – Angeklagt

Romantrilogie

384 Seiten, gebunden, Leinen bedruckt
November 2017
SFr. 32.–, 32.– € / eBook sFr. 19.90
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978-3-85791-835-3

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Einzigartig in ihrer Radikalität

Die drei Romane «Daskind», «Brandzauber» und «Ange­klagt» bilden gemeinsam eine Trilogie, die in ihrer Radi­kalität in der Schweizer Literatur einzigartig ist. Erstmals erschienen zwischen 1995 und 2002, verhandeln sie die exis­tenzielle Dimension der Gewalt.

Neben Mariella Mehrs reichem lyrischem Werk ist die «Gewalt­-Trilogie» ihr Hauptwerk. Während in «Daskind» die Thematik der Ge­walt durch das Brechen einer Identität aufgegriffen wird und die Gewalt im sozialen Rahmen der Dorfgemeinschaft stattfindet, widmet sich «Brandzauber» dem paralysierten Leben einer bereits zerbrochenen Identität, es geht um die in der Geschichte gespeicherte und weitergegebene Gewalt. Der letzte Band «Angeklagt» zeugt von einer beängstigen­den Neuformierung von Identitätsbruchstücken, die nack­te Gewalt, der Trieb sind die zentralen Motive des Romans.

Mariella Mehrs Erzählkunst ist von einer archaischen Kraft, die auch in der Sprache spürbar wird. Dabei haben ihre Werke nichts von ihrer Aktualität ein­gebüsst: Im Kontext der laufenden Aufarbeitung der Ge­schichte der Fremdplatzierungen und Zwangsmassnah­men in der Schweiz sind sie hochaktuell. Brisant ist aber auch das Thema der Gewalt gegen «Andersartige» und der problematische Umgang mit Aussenseitern.

Mariella Mehr

Mariella Mehr, geboren 1947 in Zürich, wuchs in Heimen, bei Pflegeeltern, in Erziehungsanstalten auf und wurde ein Opfer des sogenannten «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse». Die Universität Basel verlieh ihr die Ehrendoktorwürde für ihr publizistisches Engagement für unterdrückte Minderheiten. Zudem erhielt Mariella Mehr den Anna-Göldi-Menschenrechtspreis. Als Schriftstellerin wurde sie unter anderem mit dem Bündner Literaturpreis, dem Pro-Litteris-Preis und mit dem Anerkennungspreis der Stadt Zürich gewürdigt. Mariella Mehr starb am 5. September 2022.

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Hat keinen Namen, Daskind.

Hat keinen Namen, Daskind. Wird Daskind genannt. Oder Kleiner bub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt, oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Härchen, Dreckigerbalg.
Hat keinen Namen, Daskind. Darf nicht heißen. Darf niemals heißen, denn dann könnte keine der Frauen im Dorf, der danach zu mute ist, Daskind Kleinerbub nennen oder Frecherfratz, zärtlich, gierig. Oder Saumädchen, Hürchen oder Dreckigerbalg, wenn Daskind Bedürfnisse hat. Wer sagt schon Saumarie, Hurenvreni, Dreckrosi. Gewiss könnte man das sagen, aber es ist zu aufwendig, zu umständlich, sich des Namens des Kindes zu erinnern.
Also, Daskind.
Daskind spricht nicht, hat nie gesprochen. Schweigt düster. Schreit und tobt gelegentlich, anstatt zu sprechen. Hat nur eine Luftsprache, die Dörfler Dörfler nennt oder Frauen, Männer, Näherin, Schwestern, wenn es Nonnen sind, Herrpfarrer, Sigrist. Totengräber, Coiffeur, Polizist, Gemeindepräsident, Abdecker, Pflegevater, Pflegemutter und den Pensionisten im Pflegeelternhaus:
Den Pensionisten. Ein Knecht. Beim Großbauern ganz in der Nähe verdingt. Mit immergrünem Gesicht im Grünenzimmer, so nennt die Pflegemutter den Raum neben der Kammer des Kindes, weil dort im Winter die Geranien lagern und die Wände des Zimmers lindgrün ge strichen sind.
Daskind jetzt auf dem roten Sofa im Wohnzimmer. Über dem Scheitel des Kindes der leidende Christus am Kreuz. Silbern leuch tend auf dunklem Holz. Das lange Silberhaar um den silbernen Kopf und einrahmend das silberne Lächeln, den silbernen Tod. Silberblut quillt aus dem silbernen Herzen, Silberherz stirbt. Stirbt immerzu. Wie kann einer, denkt Daskind, immerzu sterben. Ohne Groll. So ist das Leben des Kindes im Hause Idaho, umsorgt von Derfrau und Dem mann – Pflegemutter und Pflegevater –, ein Silbertodimmerzu. Im Beisein der Silbereltern, des Silbervaters, der Silbermutter: Die win ken dem Sterben des Kindes zu, lachen es an und strafen es silbern, wenn nicht der Kleinefratz, zärtlich, sondern Daskind, Derfrechefratz, Dassaumädchen, Hürchendreckigerbalg Bedürfnisse äußert, die der Kleinefratz, zärtlich, nicht äußert.
Dass zum Beispiel nachts die Tür der Kammer des Kindes offen stehe, damit sich Daskind nicht so ganz alleine fühlt. Dass das Licht brenne im Korridor, bis Daskind schläft. Dass man ihm die Angst nimmt vor der Nacht und dem Immergrünen im Grünenzimmer. Dass kein Silberpfahl wachse ins kindliche Herz und keiner eindringe in jene Bereiche, die kein Grün kennen, nur kindlichen Schlaf.
Dass endlich Vergeltung einbräche in diese Dunkelwelt, denkt Daskind, um alle Schuld zu sühnen, die des Kindes und die der andern. Daskind will wissen, dass es schuldig ist, ein Silberleben lang. Weshalb sonst stürbe der andere, der Silberleib am dunklen Holz, seinen Silbertod immerzu.
Dass Fritz, der Kater, sich nicht auf die Brust des Kindes legen darf, wenn es schläft und zu Tode erschrickt, wenn die Brust keinen Atem mehr hat und Fritz, der Hauskater, wie eine frevelnde Hand, eine schwere, auf der Brust des Kindes ruht.
Daskind jetzt auf dem roten Sofa im Wohnzimmer, tagsüber Nähstube, Café, Klatschraum. Daskind, Kindfüralle. Winterkind. Winterbalg.
Winterkind spricht nicht. Tobt auch nicht und schreit nicht. Sitzt still auf dem roten Sofa. Starrt auf den grauen Haarknoten der Pflegemutter Frieda Kenel, geborene Rüegg. Die singt, singt Fernimsüddasschönespanien.Singt mit brüchiger Stimme das Lied von den Trauben, der Sonne und einer einsamen Liebe, die keine Erfüllung findet. Singt, den Rücken dem Kind zugekehrt, singt und denkt an den Stoff in ihren Händen, der ein Kleid für die Freudenstau werden soll. Fernimsüddasschönespanien. Denkt nicht an Daskind, hat Daskind vergessen wie alle Nachmittage zuvor, wenn Daskind auf dem Sofa saß und rot der samtene Überzug und Daskind ein Warten.
Warten. Auf was denn? Vielleicht einmal anders. Ohne Angst.
Einmal zuschlagen.
Bescheiden, verstohlen, vorsichtig. Zum Beispiel die Freudenstau.
Daskind vor der Freudenstau. Hört den Wind in den Tannen pfeifen. Ein hoher, schriller Ruf. Muss das Hören anhalten, Daskind. Muss schreien, Daskind, mit weit offenem Mund im wild wiegenden Kopf. Hin und her, auch das Schreien wild wiegend, hinauf zum orgelnden Locken in den Tannen.
Der weiße Speichel in den Mundwinkeln der Kundin Freudenstau. Die auf dem Berg wohnt.Auf dem Tannsberg. Teilt den Berg mit zwei roten Hunden. Höllenhunden. Auch sie träumen vom Zuschlagen.
Daskind ist in seiner blauen Windjacke, eine ungenaue Adresse. Immerhin, eine Adresse.
Und mit seinen nackten Füßen. Immerhin.
Die Freudenstau. Die den Berg mit zwei roten Hunden teilt. Den Höllenhunden. Fressen täglich zwei Kilo rohes Fleisch, saufen Milch aus einer silbernen Gelte.
Wöchentlich einmal wird dem Kind befohlen, das rohe Fleisch auf den Berg zu bringen.
Schleppt den Rucksack voller Fleisch auf den Berg, Daskind. Atmet schwer.
Liegt auf der Lauer, Daskind, oben am Berg, am Tannsberg, den Blick fest auf das Haus gerichtet. Starrt auf die Tür und flüstert den Bannreim. Kann nur hoffen: Zuerst die Freudenstau, dann die Hunde. Wenn der Bannreim nichts taugt, preschen die zwei Hunde mit fürchterlichem Gebell vor, stieben in den Steingarten, zertrampeln die Steinnelken, die roten, die violetten und weißen, rasen auf Daskind zu, bleiben geifernd stehen, knurren. Es sind die weißen Reißzähne zu sehen.

Keine Zugeständnisse in den Augen, keine Kompromissbereitschaft im federnden Schritt der Tiere.
Dann die Freudenstau. Zwei Pfiffe. Scharf. Gellend. Der Pfiff der Frau eine Salve Bosheit. Kein Laut mehr. Kein Knurren.
Das Lächeln des speichelverschmierten Mundes. Die hagere Gestalt in schwarze, spitzenverzierte Gewänder gehüllt, ohne Ring am Finger. Hinter dem schwarzen Umriss der Frau mit dem strengen Scheitel im schwarzen Haar der schwarze Berg.
Sagt nichts, Daskind. Hat sich lange vorher ausgeschrien vorm dunklen Auge der Frau mit dem geifernden Mund. Spricht nicht, Daskind.
Angewidert starrt es auf die Speicheltropfen in den Mundwinkeln der Frau. Und auf die Höllenhunde unterm freien Himmel. Eingerahmt von den Hunden, die Freudenstau, Tannsbergkönigin.
Sieht ein wild taumelndes Ungeheuer über dem schimmernden Scheitel der Frau. Ein Taumeln, grad so wie das Wildwiegen der Angst vor den Wildhöhen, den Wildbildern, den Wildworten oben am Berg. Im wild wiegenden Kinderhirn.
Zwängt sich Daskind aus den Rucksackträgern. Fühlt, vom Gewicht befreit, die angenehme Kühle unter dem verschwitzten Hemd. Öffnet den Rucksack, zerrt am Fleischpaket. Zittern die Flanken der Höllenhunde. Die Hände der Freudenstau auf den zitternden Flanken der Hunde. Überträgt sich das Zittern auf den Körper der Frau mit dem leicht geöffneten Mund und den starren Augen. Der Blick ist aufs Kind gerichtet. Das nicht zittert. Das mechanisch nach dem Fleisch greift im Packpapier und sich zwei Schritte vorwagt. Blut tropft durch das Packpapier, die Schnauzen der Hunde nah, ganz nah. Das Hecheln der Hunde, ein Wildwort, wie die Salve im Kopf, wenn die Frau pfeift und die Tiere strammstehen, strammwilden, gehorchen.
So ist das, denkt Daskind, wenn Bannsprüche nichts nützen, dann sind die Hunde nah mit ihren Schnauzen und Reißzähnen und ihren zitternden Leibern. So ist es, Kind Selberschuld, und ein Grollen tief drinnen im Kind.
Hecheln sich Kühlung zu, die Hunde, nach all dem ungebändigten Zorn und den Wildworten; und weil die Frau pfiff, herrscht eine kurze Waffenruhe rund ums unbewaffnete Kind.
Lächelt die Freudenstau, winkt mit einem weißen Finger dem Kind. Es soll näher treten.
Tritt näher Daskind, vorsichtig, langsam, ohne die Frau aus den Augen zu lassen, die starrt, Krieg in den Augen.

NZZ am Sonntag, 10. Dezember 2017
Viceversa Literatur, 18. Dezember 2017
St. Galler Tagblatt, 22. Dezember 2017
Luzerner Zeitung, 22. Dezember 2017
Berner Zeitung, 22. Dezember 2017
041 – Das Kulturmagazin, Januar 2018
Magazin active live, März 2018
Südostschweiz, 24. April 2018
Saiten, 9. Mai 2018
Anna Göldi Stiftung, 4. Juli 2017
Salve, September 2018
Passim, August 2022
büCHerstimmen.ch, 21. September 2022
Infosperber, 11. Oktober 2022
Neue Wege, 23. Januar 2023
Berner Zeitung, 22. Februar 2023
Blattgold. Der Schweizer Buchpodcast, 05. Dezember 2023
DGSP Soziale Psychiatrie, 03/2024


«Zwei engagierte, wichtige Bücher in Zeiten postmoderner Beliebigkeit.»  NZZ am Sonntag

«Die Texte beeindrucken durch ihre radikale Wucht und ihre Suche nach jener Gewalt, die Opfer zu Tätern macht.» NZZ am Sonntag

«Gewalt in all ihren Ausprägungen ist das Kernthema von Mariella Mehrs Schreiben, die sie mit einer messerscharfen Sprache beschreibt.»  St. Galler Tagblatt

«Gewalt ist das zentrale Thema von Mariella Mehrs Schaffen. Sie selbst hat sie von frühster Kindheit am eigenen Leib erfahren und ein Leben lang literarisch geahndet. Wie sie mit kleinen, präzisen Verschiebungen, eigenen Schreibweisen von Wörtern und Wendungen dem gängigen Sprachgebrauch unterläuft , wie sie die auch der Sprache innewohnende Gewalt enthüllt und neue, tiefere Namen dafür wortschöpft, das ist hohe Kunst.»  Berner Zeitung

«Man nimmt die beiden Bücher gern in die Hand – und vielleicht erleichtert dies den Zugang zu einer Lektüre, die der heutigen Wellnessgesellschaft nicht nur Wohlfühlmomente beschert.»
Berner Zeitung

«Sie setzt sich, weit über das Biografische hinausreichend, mir hohem sprachlichen Können und grosser Gestaltungskraft mit den Erfahrungen einer zerbrochenen Identität und mit der Gewalt als zerstörerische Kraft auseinander.»  Saiten

«Das Buch ist mit Sicherheit eines der packendsten literarischen Bilder aus dem Finsteren Wald.»  Salve

«Das Schreiben und die Sprache werden für die Schriftstellerin und Aktivistin für die Rechte der Jenischen zu einem Raum der Freiheit. Sie erschrieb ihn sich schonungslos, angriffig, bei einer ungeheuren sprachlichen Sensibilität.» büCHerstimmen.ch

«Der Roman ist hart, kalt und von messerscharfer Logik. Als Leserin kann man sich dem Wortstrom nicht entziehen, der Text entwickelt einen unheimlichen Sog und die Sprache schneidet wie ein Skalpell ins Gehirn.» Christa Baumberger, Neue Wege

«Mariella Mehrs Weg ihrer künstlerischen Selbstermächtigung ringt Bewunderung ab: Ihre Wut und ihre Verzweiflung vermochte sie in ein so reiches wie eigenwilliges literarisches Schaffen umzumünzen.» Oliver Krabichler, Berner Zeitung