Wahrnehmungen
Laure Wyss

Wahrnehmungen

Herausgegeben von Tobias Kaestli, Hans Baumann

100 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Dezember 2002
SFr. 30.–, 30.– €
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978-3-85791-397-6

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Biografie
     

Obwohl sich Laure Wyss in viele ihrer Texte selber einbrachte, wollte sie keine Autobiografie schreiben. Auch ihre Lebenserinnerungen galten den anderen: Menschen, denen sie begegnet war. In den Texten, an denen sie bis zuletzt arbeitete – sie hat sechs hinterlassen –, ging sie auf die Suche nach Erinnerungen und stiess auf Bilder, die sich ihr eingeprägt haben.

«So nehme ich mir heraus, die Bilder, die auftauchen, die ich wahrnahm, die mein Leben veränderten, nachzuzeichnen. Mir fällt dabei auf, dass die Bilder mit Menschen zusammenhängen, die zufällig meinen Weg kreuzten. Sie dürfen nicht vergessen werden. Von ihnen ist die Rede oder das Schreiben.»

Laure Wyss
© Ruth Vögtlin

Laure Wyss

Laure Wyss ist am 20. Juni 1913 in Biel/Bienne geboren und dort in die Schule gegangen. Nach der Matura (1932) Sprachstudium in Paris, Zürich, Berlin. Abschluss in Zürich, Lehrerinnenpatent für Deutsch und Französisch, Heirat. Die Kriegsjahre erlebt sie in Schweden und Davos. Sie übersetzt für den «Evangelischen Verlag», auf Anregung des Leiters Arthur Frey aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen Widerstandsschriften der skandinavischen Kirchen gegen die deutsche Besatzungsmacht.

1945 Scheidung und fortan in Zürich wohnhaft. 1946 –1948 Redaktorin beim «Schweizerischen Evangelischen Pressedienst». 1949 Geburt eines ausserehelichen Kindes und freie Journalistin. 1950—1962 als Redaktorin beim «Luzerner Tagblatt»; 1958—1967 Redaktorin beim Schweizer Fernsehen. Sie gestaltet das erste Programm für Frauen, später die Diskussionssendung «Unter uns». 1962 tritt Laure Wyss in die Redaktion des «Tages-Anzeigers» ein. 1970 Mitbegründerin des «Tages-Anzeiger Magazins». Seit ihrer Pensionierung 1976 als Schriftstellerin und freie Journalistin für Zeitungen und Radio tätig. Für ihre literarische Arbeit wird sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Werkjahr der Max-Frisch-Stiftung, dem Grossen Literaturpreis des Kantons Bern und der Goldenen Ehrenmedaille des Kantons Zürich. Laure Wyss starb am 21. August 2002 in Zürich.

 

Zur Biografie von Laure Wyss siehe auch:

Barbara Kopp: Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten

Ernst Buchmüller: Laure Wyss. Ein Schreibleben, DVD

Corina Caduff (Hg.): Laure Wyss: Schriftstellerin und Journalistin

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Keine Erinnerung — nichts

Das Läuten der Abendglocken tönte über die Stadt. Es war an einem Samstag vor Ostern, das Geläute lauter als sonst, es drang in die Stube, wo wir zusammen sassen, es lag über unserem Gespräch.

Er möchte mit mir über seine Mutter reden, hatte Josy gesagt. Und seine Lebensgefährtin schien zufrieden, dass diese Frage an mich endlich passierte, sie mischte sich nicht ein, aber sie beteiligte sich lebhaft mit Kopfnicken oder Kopfschütteln. Sie wusste ja, dass Josy vor vielen Jahrzehnten, zwischen seinem dreizehnten und vierzehnten Lebensjahr, bei mir im Bergdorf gewohnt hatte und dass ich seine Mutter gern gehabt hatte. Selbst erinnerte sich Josy nicht mehr daran, wie es gewesen war, wusste nichts mehr von seiner Kindheit, nichts von einer Beziehung zur Mama. War es für ihn überhaupt eine gewesen? Das plagte den Josy seit langem.

«Was, du weisst nicht mehr, wie stolz deine Mutter auf dich gewesen ist und wie sie die Worte ‹mein Josy, mein Sohn› ausgesprochen hat? Der innige Tonfall deiner Mutter hat mir immer gefallen.»

Das habe er so empfunden, räumte Josy ein, sie habe ihn immer bewundert und für sehr gescheit erklärt ... viel zu sehr eigentlich, obschon man das als Kind schätze … aber er habe immer gespürt, dass sie ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen habe und habe deshalb dem hohen Lob nie ganz getraut. Und noch einmal: «Was hast du an meiner Mutter geschätzt?»

«Darauf gebe ich dir gern Antwort, lieber Josy. Deine Mutter kam in mein Leben, als sie dich bei uns oben in den Bergen besuchte. Sie war, als Flüchtlingsfrau, in einem schweizerischen Lager eingesperrt, es war noch während des Krieges, 1943 denke ich, während du aus dem Lager in eine Pflegefamilie kamst, ins Bergdorf, in meine kinderlose Ehe. Durch welche Vermittlung, das weiss ich nicht mehr. Es wurden Plätze für Flüchtlingskinder gesucht. Die Mädchen, die herzigen, fanden leicht Unterkunft, aber so ein dreizehnjähriger Bub, ein jüdischer Bub zudem, da wurde gezögert. Ich selber habe dich aber als Demonstration gewünscht, im Bergort war meine Umgebung sehr deutschfreundlich, also auch aus egoistischen Gründen nahm ich dich auf, mein lieber Josy, daran würde man meine Einstellung zur Kriegssituation erkennen. Es gelang ja dann auch, denn einige Leute im Bergort kamen nicht mehr zu uns zu Besuch, und das freute mich sehr. Aber ich glaube, ich habe dich ausgenützt, das musste ich dir einmal gestehen.»

«Aber nun über meine Mutter, bitte», so Josy.

«Für mich war sie eine demütige Frau, eine Frau, die nicht klagte, nicht über die Leiden der Verfolgung redete. Eine Frau, die ein schweres Schicksal ertrug. Sie war glücklich, dass ihr Sohn vom Lager befreit war und dass sie selber, einmal im Monat, frei bekam und zusammen mit ihrem zweiten Mann dich besuchen durfte. Viel habe ich nicht mit ihr gesprochen, denn sie sass, mit deinem Stiefvater, der dir fremd war, wie ich bald feststellte, den ganzen Sonntag in deinem Zimmer, und meine Versuche, euch drei hinauszulocken, an die Sonne, an die frische Luft, zu einem guten Essen vielleicht, scheiterten immer. Ihr drei sasset eingesperrt, ihr wünschtet keinen Kontakt mit aussen.»

Und fügte sogleich hinzu: «Du warst mir in den ersten Monaten ja auch fremd geblieben, meine hilflosen und vielleicht dummen Versuche, dich aufzuheitern, scheiterten. Du reagiertest mit leisem ‹ça m'est égal› und Achselzucken. Was tun? Am besten gar nichts, keine Vorschläge. Ich führte dich in die Sekundarschule, wo du trotz deiner mangelnden Deutschkenntnisse bald brilliertest, ich schickte dich in den Religionsunterricht in der benachbarten christlich-reformierten Kirche, obschon du abends, kaum ins Bett gebracht und nach dem Gutenachtsagen, deine Kipa aufsetztest und hebräische Gebete sprachst.»

Daran erinnert sich Josy nicht, an die Kirche schon und dann vor allem an die Bergwelt und ans Skifahren (ich hatte mir immer Mühe gegeben, ihm die Sprünge und Kehren und Kurven beizubringen, hatte mein Tempo gedrosselt – wie eine sorgende Skilehrerin, bis der Sieg des Buben Josy eintraf: auf einer sehr högerigen Abfahrt, über die man mit weichen Knien gleiten musste, überholte der Schüler die eingebildete Lehrerin, mit einem nachsichtigen und leicht triumphierenden Lächeln. Ich musste damals lachen, die Freude war enorm, ein Sieg meines kleinen Gastes, ein Sieg aber auch für mich.)

(…)

Neue Zürcher Zeitung, 27. März 2003
Berner Zeitung, 08. April 2003
Virginia, März 2004


«In all diesen Texten, diesen wohltuend unambitiösen Vermächtnissen, registriert Laure Wyss nüchtern, ohne Umschweife, aber dennoch mit gebändigter Emphase. Sie insistiert, fragt zäh nach, springt mit sich selbst unbequem um. Manchmal glaubt man noch ihr schallendes Lachen zu hören, manchmal spürt man ihre kaum verhohlene Trauer und jenen weichen Untergrund des Gemüts. Wenn sie dialektale Wendungen einstreut, steht sie ganz auf helvetischem Boden, und man schmunzelt, wie sie unbekümmert von ‹högerigen Abfahrten› mit den Ski spricht. Doch bisweilen entfernt sie sich schon von den umtriebigen Geschäften der Lebenden. So wichtig sind diese nicht mehr in einer letzten Lebenszeit, da sie selbst ‹das heftige Erleben der Gefährdung› spürt. Nur dieses zählt: ‹Die Sterne leuchteten näher. Nun scheint es möglich, dass Ohnmacht Stärke bringt.›» Neue Zürcher Zeitung

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