Karlheinz Weinberger oder Die Ballade von Jim
Patrik Schedler

Karlheinz Weinberger oder Die Ballade von Jim

Ein biografischer Essay

128 Seiten, Klappenbroschur,

Wegen ungeklärten Urheberrechtsverhältnissen konnten wir leider im Buch keine Weinberger-Fotografien aufnehmen.

November 2018
SFr. 29.–, 29.– €
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978-3-85791-867-4

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Annäherungen an ein ungewöhnliches Leben

Äusserlich führte Karlheinz Weinberger ein unspektakuläres Leben. Seine Jugend verlief beschaulich, wenn auch recht bescheiden. Arbeit als Teppich- und Möbelverkäufer. Mit 34 Jahren Anstellung als Lagerist bei Siemens, wo er bis zu seiner Pensionierung blieb. Zeitlebens wohnte er im selben Haus im Zürcher Kreis 4.

Bereits als Sechzehnjähriger entdeckte er das Medium der Fotografie für sich. In seiner Freizeit fotografierte er Halbstarke, Rocker, Biker und Tätowierte und bildete in über sechzig Jahren seines fotografischen Schaffens die Rückseiten der bürgerlichen Welt in der Schweiz ab. Aber sein Werk geht darüber hinaus: Auch Sportfotografien, Bilder der Volkskultur und homo erotische Bilder finden sich in seinem Vermächtnis. Weinbergers fotografisches Schaffen spiegelt sein Leben, seine Homosexualität und seine Faszination für virile Welten wieder.

Patrik Schedler betreute Karlheinz Weinberger in seinen letzten Lebensjahren künstlerisch und wurde zu einem seiner Vertrauten. Der erst spät international bekannt gewordene Fotograf hinterliess kaum Schriftliches, doch entlang seines Werkes und seinen Erzählungen zeichnet Patrik Schedler dessen ungewöhnliches Leben zwischen bürgerlichem Alltag und der Faszination für Menschen am Rande der Gesellschaft nach.

Patrik Schedler

Patrik Schedler

Patrik Schedler, geboren 1963 in Warth, ist Philosoph, Lehrer und Kurator. Er führte von 1993 bis 2004 die Galerie und Edition Schedler in Warth, Zürich und Toronto. Ab dem Jahr 2000 betreute er Karlheinz Weinberger künstlerisch und organisierte zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Nach Weinbergers Tod sicherte und inventarisierte er als Willensvollstrecker seinen künstlerischen Nachlass.

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9       ABSCHIED
15     WOHNUNG
23     FRÜHE JAHRE
30     «DER KREIS»
34     LIEBE
41     FOTOGRAFIE
51     REISEN
55     SPORT
59     HALBSTARKE
78     ROCKER
87     GELEBTES LEBEN
94     ALEX
101   ENDE
112   ANHANG

Abschied

Es gibt die Fotografie einesTankwarts, auf dessen Overall und Schirmmütze das Esso-Signet aufgenäht ist, irgendwo unter einer südlichen Sonne. Es ist das erste Bild im Buch «Karlheinz Weinberger. Photos 1954–1995». Dieses Bild war meine erste Begegnung mit Karlheinz Weinberger. Es fiel mir in einer frühen Ausgabe der illustriertenZeitschrift für homophile MännerDer Kreis auf, und ich fragte mich, wer sich wohl hinter dem Namen «Jim», der als Fotograf aufgeführt war, verberge. Nach ein paar Nachforschungen stiess ich auf eine ganze Reihe von Leuten, die wussten, wer dieser Jim sein könnte; es handle sich um einen gewissen Karlheinz Weinberger, ein kauziger Typ, an den man kaum herankomme. Aber niemand schien ihn näher zu kennen.

Beides erwies sich als irgendwie richtig, als ich ihn viele Jahre später persönlich kennenlernte. Er war schon sehr speziell, und richtig nahe an sich herankommen liess er nur ganz wenige Leute. Die letzten fünfeinhalb Jahre seines Lebens habe ich sehr, sehr viel Zeit mit ihm verbracht, und es gab ein paar dramatische Momente, für ihn, für mich und für uns beide, aber trotz alledem blieben wir per Sie und bleiben es nun auch über den Tod hinaus. Wenn man sich schon so nahekommen musste, dann wenigstens mit höflichem Respekt. So sah er das. Ich seh es heute auch so.
Nur: Was heisst denn hier «Nähe»? Wenn jemand gestorben ist, fragt man sich sehr bald: «Habe ich ihn wirklich gekannt?» Das fragt man sich bei den verstorbenen Eltern, vielleicht beim Lebenspartner, womöglich sogar bei eigenen Kindern, wenn man das Leid erfahren muss, dass sie früh sterben. Der Tod schafft immer sehr viel Distanz. Er entfremdet uns dem Menschen, der vorher noch lebendig war, und wir meinen, wir hätten ihn gar nie richtig gekannt.

Seltsamerweise geht mir das mit Karlheinz Weinberger nicht so, oder noch nicht. Er ist gar nicht weggegangen. Und ich weiss nicht, ob ich sagen soll, ich fürchte oder ich hoffe, dass er gar nie weggeht aus meinem Leben, so sehr ist er zu einer wichtigen Figur für mich geworden.

Erstaunlich ist, dass Menschen, die ihn nie persönlich getroffen haben, glauben, sie würden diesen Mann kennen. Jedenfalls hat mich erstaunt, wie gross die Anteilnahme und Betroffenheit nach der Todesnachricht bei Menschen waren, die nur seine Fotografien kannten und nicht ihn persönlich, und erstaunt haben mich auch die Äusserungen, was für ein reiches, erfülltes und spannendes Leben er geführt haben musste.

Nach der grossen Ausstellung im Museum für Gestaltung Anfang des Jahres 2000 wurde Karlheinz Weinberger schnell weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Seine Fotografien wurden in Einzel- und Gruppenausstellungen in London, Berlin, Mailand, Rom, New York, Los Angeles,Tel Aviv,Toronto und Montreal gezeigt. Auf diesen Erfolg war er sehr stolz und das mit Recht, denn er ist nicht das Ergebnis einer mit Geld und Macht geölten Kunstmaschine, sondern eine, wenn auch etwas sehr späte, Anerkennung des künstlerischen Werts seiner lebenslangen Arbeit, einer Arbeit freilich, die zwar stets Berufung, aber nie Beruf war. Sein Berufsleben hingegen war unspektakulär, und er hat mehrmals in Interviews erwähnt, dass er ohne die Fotografie wohl eher früher als später an Langeweile gestorben wäre.

Karlheinz Weinberger besuchte die Primarschule in einem Dorf in der Nähe von Zürich, weil die Eltern fanden, dass die Kinder besser auf dem Lande aufwachsen würden. Kurz vor dem Eintritt in die Mittelschule kehrte die Familie wieder in die Stadt zurück, wo er auch geboren worden war. Das Literaturgymnasium konnten seine Eltern sich zwar noch leisten, aber an ein Studium war nicht zu denken. Deswegen musste irgendeine Arbeit gefunden werden, was nicht leicht war. Ein paar Praktikumsstellen folgten, und dann gab es Zeiten längerer Arbeitslosigkeit, bis er endlich bei der Firma Siemens als Lagerist seine Stelle fand. Hier blieb er bis zu seiner Pensionierung.

Es gibt verschiedene Anekdoten, wie er zur Fotografie kam. Jedenfalls war es sehr früh, und es gab ein erotisches Erlebnis, an dessen Ausgang der Jüngling stolzer Besitzer einer Kamera war. Was hingegen sicher ist: Karlheinz Weinberger hat nur fotografiert, wer ihm gefiel. Zumindest hat er nur solche Fotografien aufbewahrt. Das waren einige Frauen, vor allem aber Männer, «richtige» Männer. Deswegen blieb Zürichs erste Schwulenorganisation, der «Kreis», auch nicht seine Heimat, denn im «Kreis», sagte er, gab es keine «richtigen» Männer.

Einem Mann jedoch, den er dort kennenlernte, blieb er bis zu dessen Tod verbunden, denn dieser Mann unterstützte sein künstlerisches Schaffen, so gut er konnte. Ihm verdanke er, dass er schon früh reisen konnte, nach Sizilien und Marokko. Die Reisen in die DDR waren hingegen nicht vom wohlhabenden Zürcher Financier Eugen Laubacher finanziert, sondern von der Zeitung Satus Sport, für die er während vieler Jahre als freier Fotoreporter tätig war. Einige dieser Arbeiten sind atemberaubende Sportfotografien, wie man sie kaum mehr findet, und erstaunliche und eindrückliche Zeitdokumente, besonders jene Bilder von der Motorradmeisterschaft 1962 am Sachsenring in Ostdeutschland.

Die grösste «Reise» jedoch fand in seiner eigenen Wohnung, auf dem Dachboden und der Zinne des Hauses an der Elisabethenstrasse 26 in Zürich statt, wo er fast sein ganzes Leben verbrachte. Denn dorthin pilgerten viele unterschiedliche, seltsame, schöne, traurige, verzweifelte, geflohene, verlorene, verliebte, abgebrannte, stolze, eitle, geile, kluge, neugierige, mutige und verwegene Figuren, wie man sie sonst bestenfalls alsWeltreisender antrifft. Weinberger hat sie alle zu sich nach Hause geholt, und dort wurden sie fotografiert, auf dem Stuhl, dem Boden, dem Balkon, dem Dach, vor weissem Hintergrund oder vor der schiefen Bücherwand, aber stets im Augenblick höchster Präsenz und Intimität.

Hier war er ein Reisender in die inneren Welten dieser Menschen und damit auch eine Art Ethnologe, denn er hat «Wilde» getroffen, hier in Zürich, zuerst jene, die «Halbstarke» genannt wurden, später Rocker und Biker, Tätowierte und Gepiercte.

Die Bilder, die er von diesen Menschen gemacht hat, haben Aufsehen erregt bei Sammlern, bei Modefotografen, bei Kunstkritikern und Museumsleuten. Alle haben etwas gefunden, das ihnen besonders ins Auge gestochen ist. Ein bekannter Zürcher Grafiker hat es einmal treffend formuliert: «Ohne diese Bilder von Weinberger wäre die Schweiz wirklich so langweilig, wie man denkt, dass sie in den 1950er- und 1960er-Jahren war.»

Dennoch glaube ich, ist es vor allem die Magie, die er in seinen Bildern einzufangen und auszudrücken vermochte. Diese Magie ging auch von ihm selber aus, besonders, wenn er die Kamera in die Hände nahm. Ich war immer wieder erstaunt, wie ruhig er dieses schwere Gerät bis zum Schluss hat halten können. Er zitterte und zeterte und wackelte in seinem Rollstuhl, bis er in der richtigen Position war, und dann wurde es für einen Augenblick so ruhig, als ginge ein Engel durchs Zimmer, und in diesem Augenblick drückte er ab. Ich glaube, da war schon etwas wie «Zauberei» im Spiel, und wer seine Wohnung kannte, pflichtet mir bei, denn so stellt man sich bestenfalls die Höhle eines Schamanen vor mit seinen Kerzchen und Figürchen und Bildchen, der über die Jahrzehnte rauchgeschwärzten Decke und den Wänden voller Graffitis. Das wurde gegen Weihnachten hin besonders sinnfällig.

Wir wissen es, und deswegen muss ich nicht erklären, weshalb ein hier vorgetragener Lebenslauf nur eine kleine Verbeugung sein kann vor diesem grossen Leben, das zu Ende ging: Das, was er uns hinterlassen hat, spricht für sich. Noch kurz vor seinem Tod erhielt er eine Bestätigung, die ihn mit Freude und Befriedigung erfüllte. Eine seiner Fotografien zierte die Einladungskarte zur feierlichen Eröffnung des bedeutenden New Hessel Museum of Art in Upstate New York.

Er war sehr erstaunt, dass das Bild eines verwegenen Mädchens ausgewählt wurde. Die Ambivalenz und zuweilen bissige Ironie, mit der er sich äussern konnte, kam auch hier zum Vorschein. Er schaute sich die Einladungskarte lange an und sagte bloss: «Was würde sie wohl dazu sagen? – Das dumme Ding sprang im Suff aus dem Fenster und war auf der Stelle tot.»

Wenn wir uns noch lange an diesen Mann erinnern, als hätten wir ihn wirklich gut gekannt, dann kommt das daher, dass er uns etwas sehr Intimes hinterlassen hat, seinen Blick auf die Welt, seine Perspektive und seine Idee von Schönheit und Wahrheit. Wenn immer die Erinnerung an ihn verblassen mag, bedarf es nur eines Blicks auf seine Bilder, und wir werden sogleich wieder die hinter den dicken Brillengläsern schalkhaft zwinkernden Augen sehen.

Abdankungsrede von Patrik Schedler für Karlheinz Weinberger, 21. Dezember 2006, Krematorium Sihlfeld, Zürich

P.S. Zeitung, 26. Oktober 2018
Bluewin.ch, 31. Oktober 2018
Tages-Anzeiger, 3. November 2018
Zürcher Tagblatt, 21. November 2018
Durrer Intercultural Blog, 12. Dezember 2018
Bluewin.ch, 14. Dezember 2018
In München, Heft 01/2019, Januar 2019
P.S. Zeitung, 24. Mai 2019


«In den Fotografien von Weinberger spürt man die Sympathie für seine Protagonisten. Er ist ein Kumpel jener, die beim Zürcher Knabenschiessen am Rand stehen, am Boden herumlungern. Er ist ein genauer Beobachter, ein sympathetischer Chronist und Portraitist. Und er hat eine wichtige Dokumentation jener Jahre geschaffen, eine sehr authentische und persönliche.»  Tages-Anzeiger

«Mit seinem Blick für die Rebellen am Rande der Gesellschaft hat er den Ausdruck einer Generation in seinen Bildern festgehalten.»  Annabelle

«Nach und nach zeigt sich der Reichtum des Werks von Karlheinz Weinberger, man kann neue Facetten entdecken: etwa fantastische Sportbilder oder Fotos, die er bei den Festen der schwulen Organisation ‹Der Kreis› machte, deren Mitglied (Pseudonym Jim) er war.»  Sonntagszeitung

«Fazit: Erhellend und instruktiv.»  Durrer Intercultural Blog

«A mysterious confluence of circumstances led Mr. Weinberger to make a truly unforgettable body of work.»  New York Times

Bilder aus diesem Buch sind auch als Postkarten erschienen.

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