«Die hohe Qualität Ihrer Veröffentlichungen trägt wesentlich
zum literarischen Reichtum der Schweiz bei»

Übergabe des Oertli-Preises 1994, 29. Oktober 1994, Schloss
Waldegg bei Solothurn. Referat von Frau Ruth Dreifuss, Bundesrätin. 

oertli

V.l.n.r.: Heiner Spiess, Marlyse Pietri-Bachmann, Ruth Dreifuss, Jürg Zimmerli, Hans Tschäni 


Die Einladung zur Übergabe des Oertli-Preises 1994 hier in Waldegg hat mich ausserordentlich gefreut. Ich nütze diese Gelegenheit, um das Pionierwerk der Oertli-Stiftung zu würdigen: Seit 1965 ist es das Ziel dieser Stiftung, das Verständnis zwischen den Sprachregionen zu fördern, «Brücken zu schlagen» zwischen den verschiedenen Landesteilen. Ich schätze ihre geistige Offenheit, ihr Engagement für die Allgemeinheit und ihr Mittragen in so vielfältigen Bereichen wie Naturschutz oder Sozialwerke. Diese breite Fächerung der Stiftung zeigt sich auch in der Verleihung ihrer Preise an Historiker wie Herbert Lüthy, Persönlichkeiten wie Iso Camartin, Théo Chopard, Alfred Berchtold, Unterrichtende, Journalisten oder Übersetzer.

Ich bin glücklich, dabeisein zu können, wenn heute der Preis 1994 an Verleger übergeben wird: Das geschriebene Wort, Bücher, sind für mich etwas sehr Kostbares. Die heutigen Preisträger kenne ich gut, und zwar schon seit langem. So nehme ich an dieser Verleihung besonders gerne teil.

Sie ehren heute nicht nur zwei Verlage, die Editions Zoé in Carouge bei Genf und den Limmat Verlag in Zürich, sondern auch drei Verleger: Marlyse Pietri-Bachmann, Heiner Spiess und Jürg Zimmerli. Ich gratuliere der Stiftung zu dieser Wahl. Diese Verleger leisten in der Tat einen enormen Einsatz für die Verbreitung der Werke von Schweizer Autoren im ganzen Land: Sie veröffentlichen deren Texte in einer Übersetzung.

Am Ursprung von Editions Zoé, während der 68er Bewegung, standen zuerst eine dann drei Frauen. Sie haben während sechs Jahren das Haus aufgebaut, wollten im wahrsten Sinne des Wortes Bücher «machen». Da war auch der Gedanke, ein Haus des Buches zu schaffen, Lektüre verfügbar zu machen, eine Stätte der Begegnung zu sein, d.h. ein Ort, an dem Schriftsteller und Publikum aufeinandertreffen. Dieser Wille, «sich für die Literatur, für die Verbindung zwischen den Kulturen einzusetzen», diese geistige Offenheit zieht sich durch das ganze Wirken von Zoé und zeigt sich vor allem in der Wahl der Autoren.

Seit der Gründung im Jahr 1975 brachte Zoé Deutschschweizer Autoren in die Westschweiz. Das verdient umso stärkere Beachtung, als die deutschschweizerische Kultur damals, obschon verschiedene Verlage existierten, in der Westschweiz kaum Fuss fassen konnte. Als ersten Deutschschweizer Autor veröffentlichte Zoé Niklaus Meienberg.

Erstaunlicherweise war es gerade der Erfolg dieses «störenden» Schriftstellers, der dem welschen Publikum Appetit auf noch mehr Deutschschweizer Autoren machte.

Wer von Zoé spricht, muss, und das tue ich mit Vergnügen, auch Marlyse Pietri-Bachmann nennen, ihre Sensibilität, ihre Offenheit, ihre Dialogbereitschaft. Wie sie selbst sagt, «nähert man sich dem andern durch die Freude am Lesen». Sie hat das Abenteuer später alleine hartnäckig verfolgt. «Das Exil», meint sie weiter, «die Zerrissenheit zwischen mehreren Kulturen, das Grenzdasein, die Seltsamkeit des Lebens, das sind die Themen, die mich am meisten berühren; was jedoch zählt, ist die Suche nach dem Schriftsteller in einer originalen, einzigartigen Form». Das ist eine schöne Definition der Aufgabe eines Verlegers.

Jüngstes Zeichen der Offenheit und des anhaltenden Entdeckergeistes Zoés: Im letzten Frühling wurde die neue Reihe «littératures en émergence» lanciert, in der Schriftsteller mit anderen kulturellen Wurzeln zu Wort kommen, Menschen, die sich in einer europäischen Sprache ausdrücken und «ihre schriftliche Sprache an ein neues ästhetisches und kulturelles Umfeld anpassen» wollen.

Weiter habe ich gehört, dass Zoé für diesen Herbst zwei neue interessante Reihen vorbereitet. Auch sie folgen demselben roten Faden, dem Willen, die Schweizer mit sich selbst zu versöhnen. Biface ist eine deutsch-französische Reihe mit Texten klassischer oder zeitgenössischer deutschsprachiger Autoren. Die Schweizer Autoren werden dabei «mindestens die Hälfte ausmachen». In der Reihe Mini-Zoé erscheint «Schweizer Geschichte und Literatur im Postkartenformat».

Zwischen dem Limmat Verlag und Zoé lassen sich mehrere Ähnlichkeiten feststellen: das Gründungsjahr 1975, die Konzentration auf Schweizer Autoren, regelmässige Übersetzungen von Schweizer Autoren, Zusammenarbeit mit der CH-Reihe. Die Besonderheit des Limmat Verlags ist jedoch die Veröffentlichung von wissenschaftlichen und historischen Arbeiten vor allem über die Arbeiterbewequng; dieser Verlag ist eher im Sachbuchbereich tätig als in der Literatur.

Weiter unterscheidet sich der Limmat Veriag durch sein politisches Engagement, das 1975 mit der Begeisterung von zwei Studenten der Universität Zürich und ihren Arbeiten über die Geschichte der Arbeiterklasse begann. Die Publikation des «Dokumentenbandes zur Geschichte der Schweizerischen Arbeiterbewegung» war derart erfolgreich, dass daraus der Limmat Verlag entstand. Dieses Interesse für die gesellschaftlichen Probleme und für die Sozialgeschichte dieses Landes war von allem Anfang an da und ist das besondere Kennzeichen dieses Verlags. Aber die Palette seiner Veröffentlichungen ist viel breiter und sehr eindrücklich: Neben den Reihen über gesellschaftliche und politische Fragen finden sich Foto- und Kunstbände, Astronomiebücher, Autoren aus der dritten Welt, Historiker und natürlich Schweizer Autoren. Es war der Limmat Verlag, der Corinna Bille oder Ramuz in der deutschen Schweiz bekannt gemacht hat.

Der Werdegang des Verlangsgründers Jürg Zimmerli, sein politisches Engagement und seine organisatorischen Fähigkeiten bilden zusammen mit dem Weg von Heiner Spiess eine solide Grundlage für die Arbeit im Team, für Kreatives und für Entdeckungen. Jürg Zimmerli machte eine Lehre in einem Verlag und studierte später Ethnologie an der Universität Zürich, Heiner Spiess studierte Geschichte, politische Wissenschaft und deutsche Literatur.

Eine weitere Besonderheit des Limmat Verlags: Bei dieser Genossenschaft wurde man durch seine Mitarbeit – oft in der Freizeit – Mitglied, nicht durch den Erwerb von Anteilscheinen.

Die Zusammenlegung des Limmat Verlags mit dem Unionsverlag, der auch eine alte Verlagsorganisation war, stärkte das kreative Potential der Verleger, ohne allerdings ihre Grundausrichtung in Frage zu stelien.

Die Verleihung eines Preises an Verleger, das bedeutet Entschädigung und Ermutigung für die jahrelange Arbeit im Dienst der Kultur und im Dienst derjenigen, die die Kultur ausmachen. Dieser Preis verschafft zwei Verlagen etwas mehr Spielraum, hilft ihnen, vielleicht eine weitere Utopie, einen weiteren Traum zu träumen und zu verwirklichen. Der Preis öffnet neue Horizonte, was in dieser Zeit der Rezession zweifellos willkommen ist – viele Verleger sehen sich nämlich gezwungen, ihre Produktion einzuschränken.

Wenn der Oertli-Preis, der helfen soll, Brücken zu schlagen, nun an Verleger verliehen wird, dann bedeutet das auch Anerkennung für einen ganzen Schaffenszweig, den des Buches. Das ist die Anerkennung als Kommunikationsmittel, als Instrument zur Kulturvermittlung, des Dialogs, der gegenseitigen Öffnung und Bereicherung.

Es bedeutet auch Anerkennung der Tatsache, dass der Verleger im Bücherreich eine grundlegende Rolle spielt: Er wählt und bestimmt, was dem Publikum vorgelegt wird, sei das nun aus spontaner Begeisterung oder aufgrund einer politischen Wahl. Ein Verleger ist jemand, der, ich würde sagen, per definitionem leidenschaftlich ist. Er treibt seine Leidenschaft soweit, dass er daraus seinen Beruf macht. Er liebt das Buch, nicht nur als Zuschauer oder Leser, nein, er wird selber Handelnder und Produzent. Was für ein wunderbares Erlebnis, einen Verleger voller Feuer über seine nächste Erscheinung sprechen zu hören oder über die neue Reihe, die er schaffen wird. Wer die Verleger und die Bücher liebt, spürt, wie bewegt sie sind, wenn sie den Entwurf, das Papier ihres nächsten Buches in der Hand halten und betasten. Das Verlagswesen ist ein Beruf aus Liebe, Liebe zum Buch, zum Schreiben, zu den Autoren. Es braucht Neugier, Kühnheit und Fantasie, Sinn für Schönheit und für Intelligenz, Unerschrockenheit angesichts von Schwierigkeiten, Entdeckungsfreude und Freude daran, andere in Entdeckungen zu führen. Es ist ein Beruf, für den es sowohl Ehrgeiz als auch Bescheidenheit braucht, denn in erster Linie geht es ja darum, jemand anderes zu fördern.

Sie als Verleger üben einen der schönsten Berufe überhaupt aus. Dafür, wie sie ihn ausüben, erhalten Sie heute zu Recht eine Ermutigung. Ich freue mich darüber, wie ich mich auch über die künftigen Momente des Glücks freue, die Sie uns noch schenken werden. Die Freude am Lesen, am Lernen, ist einzigartig. Das Mitleben von Emotionen, von Schmerz, von Tragik, von Schönem, von Dingen, die uns mitreissen oder uns abstossen, all das verdanken wir Ihnen. Und natürlich all jenen, die das ungeheure Privileg geniessen, schreiben, fotografieren, zeichnen oder malen zu können.

Verleger sein ist ein schwieriger Beruf, wenn Qualität das Ziel ist. In der Schweiz gibt es zahlreiche kleine Verlage, und jeder von ihnen bringt jedes Jahr ein paar Titel heraus. Oft überleben sie nur unter Schwierigkeiten. Mit ihnen verfügt die Schweiz über einen echten Reichtum an Publikationen: unserem Nachbarland Frankreich zum Beispiel steht sie im Verhältnis in nichts nach. Allerdings wird die Unterstützung des Bundes für das Buch und die Literatur oft verkannt, manchmal auch kritisiert, weil man sie für ungenügend hält. Es wird sie vielleicht erstaunen, dass das Bundesamt für Kultur die Dachverbände der Schriftsteller subventioniert (Fr. 560'000.–). Es unterstützt die Ausstellung von Büchern im Ausland (Fr. 680'000.–), die im Bereich der Kinder- und Jugendbücher aktiven Dachverbände (Fr. 280'000.–) und die Volksbibliothek (1,8 Mio.). Dazu kommt noch Pro Helvetia, die ebenfalls Verlage, Übersetzungen und punktuell Autoren unterstützt.

Natürlich gibt es keine «Bundespolitik zur Unterstützung des Buches»; eine solche stünde im Widerspruch zu unserem föderalistischen System. Dieses System hat zur Folge, dass die Kultur wie die Bildung Aufgabe der Kantone und der Gemeinden ist, die dabei eine beachtliche Rolle spielen und den Löwenanteil der öffentlichen Beiträge in diesem Bereich leisten. Infolge der Ablehnung des Kulturförderungsartikels kann der Bund auch in Zukunft keine umfangreichere Unterstützung gewähren. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass der Bund, soweit das bei der gegenwärtigen Finanzlage möglich ist, versuchen wird, das Buch und die Literatur weiterhin zu unterstützen, wenn nicht gar neue Finanzierungsmöglichkeiten zu finden.

Im Verlagswesen haben auch Einsätze von Privaten, das Sponsoring oder das Mäzenatentum, eine wichtige Rolle inne. Wie ihr Präsident bemerkt hat, nimmt die Oertli-Stiftung ihren Auftrag als «Servoorgane» oder als «Milizhelfer» ernst und verfolgt ihn sehr aktiv. Sie haben Recht Herr Tschäni, wenn Sie betonen, dass die subsidiäre Rolle Ihrer Stiftung in unserem Bundesstaat wichtiger denn je ist. Echte Kulturpolitik, mit oder ohne Kulturförderungsartikel, kann durch Organisationen wie die Ihrige und ohne deren Engagement nicht gemacht werden. Ich möchte ihren Verantwortlichen noch einmal danken für all das, was die Stiftung für den Bau und die Festigung der Brücken zwischen den Regionen, den Kulturen und den Menschen in unserem Land unternimmt.

Ihnen, verehrte Preisträgerin, verehrte Preisträger des Oertli-Preises 1994, gratuliere ich ganz herzlich und danke Ihnen für Ihre Arbeit. Die hohe Qualität Ihrer Veröffentlichungen trägt wesentlich zum literarischen Reichtum der Schweiz bei.

Wenn Sie die Kultur der Schweiz zum Leben bringen, dann beleben Sie dadurch das ganze Land. Vielen Dank.

 

Dankesrede von Jürg Zimmerli, Limmat Verlag

Verehrte Anwesende

im Namen auch von Heiner Spiess – es kann von uns beiden logischerweise nur einer sprechen – danke ich der Oertli-Stiftung herzlich für den erhaltenen Preis. Ich danke aber gleichzeitig auch allen unseren Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzern. Wegen ihrem Wirken stehen wir heute vor Ihnen.

Wie schön tönt es doch – aber auch fremd – wenn andere Leute über unsere Taten berichten: haben wir das alles wirklich gemacht? und haben wir das alles wirklich erreicht?

Erlauben Sie, dass, wenn schon so viele illustre Ohren zuhören, ich für einmal aus der verlegerischen Froschperspektive unseres Bücheralltags erzähle. Schliesslich haben Sie diesmal Ihren Preis an Büchermacher, also Handwerker der Kultur vergeben, an Kunsthandwerker sozusagen.

Wir erleben Tag für Tag viele Gräben. Den Graben zwischen kulturellem Engagement und kommerzieller Realität. Zwischen literarischer Bedeutung und den Lesesympathien des Publikums. Zwischen unseren eigenen Visionen und unseren eigenen Kräften und Talenten. Und da ist natürlich auch der Röstigraben in der Literatur, den zu überbrücken das grosse Ziel Ihrer Stiftung und auch unseres Verlages ist.

Sind Sie mir böse, wenn ich Ihnen nochmals in diese Kerbe haue und mir vergegenwärtige, wie tief dieser Graben ist? Wie kommt es, dass in der deutschen Schweiz der letzte Schrei von Klagenfurt bekannter ist als ein Klassiker aus dem Wallis wie Maurice Chappaz? Wie kommt es, dass soviele Mittel in die Übersetzungsprogramme fliessen und die Leserzahlen so klein bleiben? Soll ich Ihnen die Verkaufszahlen jener Bücher, für die Sie uns heute feiern, vorlesen?

Die deutsche Schweiz ist, wenn es um Bücher geht, eine radikal deutsche Schweiz. Genauso radikal wie die welsche Schweiz französisch und die italienische italienisch ist. Die Deutschschweizer Autoren erhalten denn auch ihre Preise in Darmstadt oder Berlin, die Welschschweizer den Prix Goncourt oder den Prix Renaudot in Paris. Warum also erhält der Tessiner Autor Alberto Nessi nicht einen Preis zum Beispiel vom Kanton Solothurn und wird gleich auch noch eingeladen, in Solothurner Italienischklassen Lesungen zu halten? Warum zeichnet der Kanton Glarus zum Beispiel nicht die Autorin Anne Cuneo aus und beauftragt sie, ein dramatisches Werk zu erarbeiten, das seine Uraufführung auf dem Landsgemeindeplatz zu Glarus erlebt?

Hatten die Schweizer Kulturen nicht immer dann grosse Zeiten, wenn sie von fremden Kulturströmungen profitieren konnten? Brauchen unsere kleinen Gemeinschaften nicht die Anregungen von aussen, fremdsprachige Anstösse?

Wir hoffen, auch in Zukunft mit übersetzten Texten aus dem Tessin und dem Welschland einiges anzustossen!

Besten Dank.