Ernst Strebel
Das Kursbuch des Fahrtenschreibers
Roman
August 2000
vergriffen
978-3-85791-347-1
Der Stromabnehmer einer Lokomotive reisst, im Zug sitzt ein Sänger unterwegs zu einer «Schöpfung». Er verpasst den Anschluss, gerät ausser Atem und verpatzt seinen Auftritt. In seiner Stimmkrise beginnt er Tagebuch zu schreiben und mit der Bahn auf seinen Lebenslinien zu fahren: Auf den 400er Linien kämpft ein Freund um offene Beziehungsformen und ein neues Männerbild, auf Linie 900 findet sich ein anderer Freund nicht ab mit den Sperrzonen in seinen Beziehungen und gerät in vermintes Gelände. Der Sänger selbst pendelt auf Linie 504 zwischen partnerschaftlich geteilter Hausarbeit, Konzerten und Unterricht, fährt auf 600 zu einer Frau in die Vergangenheit und lässt sich auf 657 von einem Phoniater und Bahnangestellten behandeln, auf Linie 850 ...
Die originelle Form dieses Romans ermöglicht vernetztes Lesen. Ob man das Buch von vorne nach hinten liest, chronologisch nach Bahnfahrten oder in thematischer Reihenfolge: Hypertextartig ergeben sich Fragmente von Geschichten, durchwoben von andern, die sich allmählich zu einem vernetzten Ganzen fügen.

© Yvonne Böhler
Ernst Strebel
Ernst Strebel, geboren 1951, lebt in Kölliken. Arbeitete bis 2015 als Italienischlehrer im Teilamt in Aarau und als Hausmann in Kölliken. Publikation von Gedichten und Prosatexten in verschiedenen Zeitungen, literarischen Zeitschriften und in der Anthologie «Sprung auf die Plattform».
251 Lausanne—Payerne—Lyss
23.5. Bahnhof Payerne: «Du nimmst den Odem weg ...»
Mein Zwerchfell wurde an diesem Schöpfungsabend eingeschrumpft, die Lunge gelähmt, jede Bronchie verengt, die Bauch- und Rückenmuskulatur blockiert, jedes Stimmband versteift, der Kehlrachenraum verstopft.
Und das in der Abatialle, in diesem weiten, hochgewölbten Raum, auf dessen tragende Akustik ich mich so gefreut hatte.
Wie ich «Seid fruchtbar alle» sang! Ohne Atem, und nach jeder Pause versuche ich, Luft in mich hinunterzupressen; den Ton drücke ich so hinaus, dass er wenigstens +bis zu den ersten Sitzreihen dringt. Ich würge, als kröchen auch aus meinem Mund zwei Schlangenleiber, wie bei einer der Kapitellfiguren hoch oben im südlichen Querhaus. Warte ich auf den nächsten Einsatz, schaue ich manchmal zu diesen uralten Gesichtern empor. In ihren kreisrunden Augen mit den ausgebohrten Pupillen sehe ich mein Entsetzen starren; auch mein Körper ist weggeschrumpft, wie der des Trikephalos Belzebub; auch ich bestehe nur noch aus einem Kopf und Händen, in denen ich krampfhaft die Schöpfung halte.
«Mehret euch!» Die Kenner schüttelten unmerklich den Kopf. Die hatten zusammen mit diesem Orchester und diesem Dirigenten an einem solchen Aufführungsort einen ganz anderen Bass erwartet.
Ich stand vor dem Publikum wie einer, der am Jüngsten Gericht vor den Auserwählten steht; jeder Ton zu meiner Rechtfertigung trat flach aus, fiel für alle Zeiten hinunter in die gähnenden Abgründe zwischen mir und den Gerechten.
«Und füllet jede Tiefe!» Das tiefe a war überhaupt nicht mehr hörbar.
Ich, der seriöse Bass!
Das Buffet hier soll eine gute Küche haben, und der Blick auf die mächtige Zeder jenseits der Gleise lädt zum Verweilen ein. Ich muss mich auffangen. Morgen ist die erste Dichterliebe-Probe.
504 Zofingen—Aarau
650 Olten—Zürich
504 --» 27.5., Zug Aarau—Olten: Nach den letzten Bäumen des Bally-Parks steht der Kühlturm mächtig im Zugfenster: «Wie wird Beton zu Gras?» Die Diskussion über das «Alte» (über den Leistungs- und Verhärtungswahn der Männer) schien, als ich den von Marcel empfohlenen Roman las, meine damalige Suche nach der «Stimme» zu bestätigen. Vielleicht gelingt es Marcel, meinen Utopie-Akku wieder etwas aufzuladen. |
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--» 410 |
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410 --» Zug Olten—Aarau: … von Treffen mit einer Kollegin, die häufiger geworden und anregend sind. Jetzt sehe ich vom Betonturm nichts mehr als die roten Lichter, die frei im Nachthimmel zu schweben scheinen. Hat der von uns entworfene Mann etwas mit dem «Neuen» zu tun ( ich habe Marcel an unsere Diskussionen über Walters Romane erinnert)? |
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--» 504 |
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504 --» 30.5., Bahnhof Aarau, Perron 1: Jetzt könnte ich singen, hier, auf der roten Bank vor dem «Gaden», den Kopf bequem angelehnt an die Mauer zwischen den Fenstern. Ein langer Güterzug ist durchgefahren. Ich habe in seinen Lärm hinein gesummt, und die Schädeldecke, die Stirn, der Kehlrachenraum, die Brust und der Bauch haben vibriert: Ich hätte den Ton in ein tragendes Forte öffnen können. Die latente, körperlich spürbare Erinnerung an meine Töne, die in der «Schöpfung» flach vor mir verendeten, ist nach der Durchfahrt des letzten Wagens zurückgekehrt. Zug Aarau—Zürich: Rot und Anthrazitschwarz; Orange mit weissem Mittelstreifen; gelber Mittelstreifen im Metallgrau; cremiges Ultramarinblau und Beige; Anthrazitgrau, weisser Mittelstreifen, Rauchgrau; Grün und Hellbeige; Blau, Weiss und Leuchtgelb; Feldgrün; Feuerrot; Nachtblau: die Farben meiner Welterfahrung in diesen paar hundert Metern Gleis- und Weichengewirr vor dem Hauptbahnhof: ganze Wagenkompositionen stehen bereit: österreichische, deutsche, italienische, schweizerische, die Wagen des Talgo Pendular, der umgebaute TEE-Zug, die doppelstöckigen Kompositionen der S-Bahn und die Kolibris, die Wagen der sechziger und siebziger Jahre, ganze Reihen von Loks 2000, die Euro-Night-Couchette-Wagen: Jede Abfahrt scheint möglich, die Wagen werden immer neu zusammengehängt, die Weichen nie ein für alle Mal gestellt. |
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--» 900 |
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900 --» Zug Zürich—Aarau: Ich stelle sie mir vor: Wie sie nach zehnstündiger Wanderung am Bahnhof von Preda auf einer roten Bank in der Abendsonne sitzen, nach dem stundenlangen Gehen nebeneinander nun aneinander gelehnt. |
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--» 504 |
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410 Olten—Biel/Bienne
900 Zürich—Chur
650 --» 30.5., Zug Zürich—Chur.: Die «Dichterliebe» hervorgenommen, um beim Fahren auswendig zu lernen: «Ich hab' im Traum geweinet, mir träumte, du lägest im Grab.» Schon in Thalwil wieder weggelegt.Der See als freie Fläche zwischen den dicht besiedelten Ufern.
Fahrenlassen.
Bahnhof Chur, Buffet: Was für ein schönes Buffet, mit all den hölzernen Intarsienmedaillons an der Wand. Über mir «Oria e Monte S.Salvatore»; mir gegenüber «Flüelen mit Bristen».
Ich überspringe einen Zug: Sitzen bleiben, als sei jede Abfahrt möglich.
Spaziergang mit Carlo von Rodels aus zum Canovasee. Lange dort gesessen, das breiteTal und die hohe Pyramide des Beverin vor uns.
Ich habe ihm von meiner lähmenden «Schöpfung» erzählt, wie ich in «Seid fruchtbar alle» mich abmühte mit dem entsetzlichen Gefühl, die Töne endeten schon in mir – wie feuchte Geschosse, die nicht zündeten, die nicht einmal Rohrkrepierer wurden, kam mir in den Sinn, in diesem von Militärerinnerungen minierten Gebiet. Er fragte nach dem Umfeld solcher Konzerte, wollte genau wissen, was ich in den Stunden vorher jeweilen mache, fand dann, ich begrenze mich halt in zu vielen Lebensbereichen, sei von zu vielen Bedingungen eingeschränkt – Haushalt, Gesangstunden, Zugfahrpläne, Proben; Leben nach Tagesbefehl. Bei mir bist du schon lange nicht mehr gewesen und die letzten Male nur kurz; wie lange es her sei, dass wir am See eine Nacht lang schwatzten, tranken (er habe übrigens wieder eine Flasche «Fontanafredda», oder ob ich keinen Grappa mehr tränke), schwammen, um dann in der Frühe zur Konditorei in Thusis zu einem ausgiebigen Frühstück zu gehn. Unmöglich, seiner Meinung nach, sich in einen «weiträumigen Gesang» hinein zu öffnen zwischen einer festen Ankunfts- und einer festen Abfahrtszeit, sozusagen; ich solle mich z.B. im Haushalt ersetzen lassen. Das wies ich vehement zurück; ich will nicht in einen alten Rollenzwang zurückfallen.
Er sagte, er sei noch immer angezogen von allem, was mit Aufhebung von Abgrenzungen zu tun habe; seit etwas mehr als einem Jahr trifft er sich ab und zu mit einer verheirateten Frau, Marianne; sie sind auf langen Bergwanderungen und Klettertouren zusammen, stundenlang nebeneinander sprechend, in steilen Abschnitten auch lange schweigend; abends verabschieden sie sich voneinander. Auch schon haben sie, sehr müde, mit der angestauten Tageshitze und davon gleichsam aufgelöst, in einem Hotel oder einer SAC-Hütte übernachtet und sind tags darauf nochmals sehr weit gegangen. Nie sehen sie sich zwischen diesen Touren.
Er erwähnte noch, aber nur kurz, eine Frau, Salome, eine Malerin mit Atelier in Basel.
Wie stets von alten RS-Bekannten gesprochen; deshalb vom Militärdienst auch; er erzählte mir von zwei Dienstverweigerern, die er verteidigte. Ab und zu übernehme er auch fettere Aufträge, aber nicht viele. Die Nachmittage und Abende wolle er, wenn immer möglich, im Atelier verbringen.
Bahnhof Zürich: Ich überspringe einen Zug und sitze hier in der grossen Bahnhofhalle vor dem «Arcade». Menschenströme Richtung Perron, Menschenströme von dorther Richtung Ausgang. Alle in Eile, dem Sonntag ein Ende zu setzen.
Nur der Rektrut und seine Freundin, die sich mir schräg gegenüber an das Geländer über den Rolltreppen lehnen, nicht; eng umschlungen stehen sie da, blicken ab und zu auf die grosse Treffpunkt-Uhr, drücken sich dann umso fester aneinander. Jetzt gehen drei Rekruten mit Effektentasche in der einen und je einem Sechserpack Bier in der andern Hand an den beiden vorbei. Morgen kannst die Knarre umarmen, grölen sie ihrem Kameraden zu. – Besetzt ihr mir einen Platz? – Erst jetzt sehe ich, dass neben ihm am Boden zwei Halbliter-Bierdosen stehen; die Deckelöffnung ist noch bei keiner eingedrückt.
Aargauer Zeitung, 06. September 2000
Pro Bahn, Oktober 2000
Zofinger Tagblatt, 13. November 2000
Woche, 30. November 2000
Schweizer Literaturzeitschrift, November 2024
«Sprachlich gelingt es dem Autor, trotz der gewählten Form des Tagebucheintrags, das angebunden kurze Notathafte in angemessenem Rahmen zu halten. Trocken ist dieses Tagebuch nicht, ja manchmal ist es sogar fantastisch-sinnlich, etwa auf der erfundenen Bahnlinie 657, wo der Fahrtenschreiber von einem Phoniater mit seltsam skurrilen Methoden von seiner Stimmkrise befreit wird. Oder auf der ersehnten Fahrt in den Süden, nach Italien, dem erträumten Fluchtort seit Kindheitstagen. Auch durch die so genannten Präludien, in denen der Fahrtenschreiber selbst versucht, sein Leben in kurzen Skizzen und Impressionen niederzuschreiben, schafft es der Autor, das manchmal nervige Hin-und-her-Springen von Linie zu Linie vergessen zu machen, gibt dem Buch Zug. Worauf also noch warten. Steigen Sie um, lösen Sie eine Fahrkarte und lesen Sie dieses Buch.» Aargauer Zeitung
«Der Roman pendelt zwischen äusseren Streckenbeschreibungen, die auf der Klassierung der fahrplanmässigen Kurse basieren, und der Seelenreise in einem Beziehungsnetz hin und her. Strebel weist sich einerseits als präziser Kenner der Eisenbahnwelt aus und hat darüber ausführliche Recherchen angestellt. Seine Schilderungen der Bahnhöfe, Pfeifsignale, Streckenführungen und Wartsäle sind von fast greifbarer atmosphärischer Dichte. Ebenso anschaulich manifestieren sich aber anderseits auch seine Beobachtungsgabe und sein Einfühlungsvermögen über das Rollenspiel der im Roman vorkommenden Figuren. Diese sind genauso authentisch beschrieben und gewinnen vor dem geistigen Auge Gestalt und Farbe. Alles, was im Buch vorkommt, ist erlebt, auch das Erfundene.
Das ‹Kursbuch des Fahrtenschreibers› ist eine Lektüre, welche die Musse des Entdeckenwollens benötigt. Dann belohnt sie die Leser durch ihren Witz und ihre Originalität.» Zofinger Tagblatt