Laure Wyss
Laure Wyss. Lesebuch
Herausgegeben von Hans Baumann, Elisabeth Kaestli
Juni 2013
978-3-85791-699-1
Vor allem als Mitbegründerin und Redaktorin des 'Tages-Anzeiger-Magazins' war Laure Wyss eine angesehene und einflussreiche Journalistin. Erst nach der Pensionierung begann sie, literarische Texte zu schreiben, die alle eine breite Leserschaft fanden, so 'Mutters Geburtstag', 'Das rote Haus', 'Weggehen ehe das Meer zufriert'. Später kamen die überraschenden und ebenfalls erfolgreichen Gedichtbände 'Lascar' und 'Rascal' dazu. Das Lesebuch konzentriert sich auf die Schriftstellerin Laure Wyss. Es stellt aus heutiger Sicht Gedichte, Erzählungen und Ausschnitte aus Romanen vor, ergänzt durch unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass. Darin wird die Vielseitigkeit ihrer Themen und ihres Schreibens sichtbar. So lässt sich die bedeutende Autorin neu oder von neuem entdecken.
© Lisa Schäublin
Elisabeth Kaestli
Elisabeth Kaestli, geboren 1945 in Frutigen BE, aufgewachsen in Biel / Bienne. Dolmetscherstudium in Genf und Triest. Ab 1973 als Journalistin für verschiedene Medien tätig. Seit 2000 freischaffende Journalistin und Autorin.© Ruth Vögtlin
Laure Wyss
Laure Wyss ist am 20. Juni 1913 in Biel/Bienne geboren und dort in die Schule gegangen. Nach der Matura (1932) Sprachstudium in Paris, Zürich, Berlin. Abschluss in Zürich, Lehrerinnenpatent für Deutsch und Französisch, Heirat. Die Kriegsjahre erlebt sie in Schweden und Davos. Sie übersetzt für den «Evangelischen Verlag», auf Anregung des Leiters Arthur Frey aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen Widerstandsschriften der skandinavischen Kirchen gegen die deutsche Besatzungsmacht.
1945 Scheidung und fortan in Zürich wohnhaft. 1946 –1948 Redaktorin beim «Schweizerischen Evangelischen Pressedienst». 1949 Geburt eines ausserehelichen Kindes und freie Journalistin. 1950—1962 als Redaktorin beim «Luzerner Tagblatt»; 1958—1967 Redaktorin beim Schweizer Fernsehen. Sie gestaltet das erste Programm für Frauen, später die Diskussionssendung «Unter uns». 1962 tritt Laure Wyss in die Redaktion des «Tages-Anzeigers» ein. 1970 Mitbegründerin des «Tages-Anzeiger Magazins». Seit ihrer Pensionierung 1976 als Schriftstellerin und freie Journalistin für Zeitungen und Radio tätig. Für ihre literarische Arbeit wird sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Werkjahr der Max-Frisch-Stiftung, dem Grossen Literaturpreis des Kantons Bern und der Goldenen Ehrenmedaille des Kantons Zürich. Laure Wyss starb am 21. August 2002 in Zürich.
Zur Biografie von Laure Wyss siehe auch:
Barbara Kopp: Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten
Ernst Buchmüller: Laure Wyss. Ein Schreibleben, DVD
Corina Caduff (Hg.): Laure Wyss: Schriftstellerin und Journalistin
Seeland und das End der Welt
Das ist ein Sommerlied ...
Schuhwerk im Kopf
Eine Liebesgeschichte
Meiner lieben Katze
Zahnstocher — eine Feriengeschichte
Uniquement pour Clement
Und immer die Garonne
Das innere Leuchten der Madame G.
Es war ein Freitag, ein 19. September
Tante Marthe — ein Leben
Konigin Barbara
Dezember zu Hause
Eine Frau, ein Mann, ein Hund
Die Verweigerung
Das Käuzchen ruft
Und Schweigen legte sich auf Platz und Dorf
Keine Erinnerung – nichts
Ich ging den Weg hinunter
Ein Sonntag in San Tommaso
Das ist eine lange Geschichte
Der Sonntag
Es muss doch irgendwie weitergehen
Der Geburtstag des Kindes
... neben dem Durstenden in der Wüste i
Die Tiefgarage
Einbruch in den Juni
Der Tod
Weggehen ehe das Meer zufriert
Wie es war – war es so? Biografische Notizen
Der Zahnstocher – Eine Feriengeschichte
Als wir uns setzten, entdeckte ich unter meinem Stuhl ein Messer, ein hübsches Messerchen, perlmuttern, weiss, zierlich – wie es sich erwies, als ich es aufhob, um es dem Kellner zu übergeben. Bei ihm würde sich der Besitzer melden, sobald er seinen Verlust entdeckt hätte. «Was, so ein handliches Messerchen, das Ihnen ausserdem wohlgefällt, das behalten Sie doch», meinte die Frau des bernischen Pfarrers. Also wars kein Diebstahl, keine Aneignung fremden Besitzes, vielmehr ein christlich abgesegneter Fund, als ich das Perlmutterne in meine Tasche gleiten liess.Von jetzt an kam es überall mit, das Messerchen, ich konnte nicht mehr auskommen ohne seine scharfen Klingen, sein Scherchen, seine winzige Pinzette und seinen Zahnstocher aus Horn. Ich steckte das kleine Messer ins Aluminiumköfferchen zum Handwerkzeug, zu den Kugelschreibern und Bleistiften und den Papieren, als ich ins westliche Frankreich in die Schreibferien fuhr. Der metallene Koffer sollte das Arbeitsmaterial vor jeder Unbill einer Reise schützen – eine Illusion, die am Ufer der Vienne, auf dem Parkplatz einer Herberge, zerplatzte, als Diebe die Touristenautos aufbrachen, nach Checks und Devisen suchend. Ihnen fiel das Köfferchen auf, sie nahmens mit. Die Polizei war rasch am Ort, schrieb, notierte, ich Geschädigte auf den Posten, Klage wegen entwendeten Arbeitsmaterials. Gegen unbekannt. «Sie werden das Köfferchen wegwerfen, wenn sie nichts Nützliches darin finden», tröstete der Kommissar, «vielleicht hinter eine Hecke.» Der Hecken in Frankreich gibts viele, ich schritt die nächsten ab, guckte hinter Stauden und Büsche, nichts leuchtete metallen auf.
Verluste sind hinzunehmen, was bleibt einem anderes übrig. Ich kaufte neue Stifte, ich beschrieb neues Papier, doch das perlmutterne Messerchen unersetzbar, bis – ja bis ein Strassen27 wischer der Stadt Bellac im Limousin frühmorgens in einer zu kehrenden Strasse mein Köfferchen fand. Und dieses, samt Inhalt, nach vielen Erkundigungen, Telefonaten, Umwegen – im Herbst jener Sommerreise – unversehrt in meiner Stube stand. Ich breitete seine Unordnung zur Ordnung, setzte die zerwühlten Mappen zusammen, die Stifte waren schreibbar, das Messerchen fehlte nicht. Ich wusch seine Klingen, zog die Pinzette heraus, wollte auf der Gegenseite nach dem Zahnstocher greifen – er fehlte. Der Kleine aus Horn – nicht mehr da. Wo war er geblieben? In den Zähnen der Diebe, die saubere Diebe waren? Oder literarisch angeknabberte, denen in dieser Stadt Jean Giraudoux' Einakter über den Schönen, den Apollo von Bellac, durch den Sinn fuhr und die sich verschönern wollten, wenigstens im Gebiss, mithilfe des Hörnernen? Fehlt den Ärmsten jene Agnès, die jedem, den sie trifft, ins Gesicht sagt «Sie sind schön, mein Herr», so dass jeder sofort zum Apoll wächst? Mein Kleiner als Ersatz für Komplimente? Nie werde ich mir den Verlust meines kleinen Zahnstochers im kleinen Messer erklären können, und so gerate ich in immer grössere Zweifel, verfange mich in immer neuen Fragen. Er beschäftigt mich ununterbrochen, mein Zahnstocher, mein vermisster.
«Die Herausgeber haben eine überzeugende Auswahl von Gedichten, Erzählungen, unveröffentlichten Texten und ausschnitten aus Romanen getroffen. Die Anthologie ist eine sinnvolle autobiographische Ergänzung zur biographischen Aussenperspektive.» NZZ am Sonntag