«Das hier ... ist mein ganzes Leben.»
Abgewiesene Asylsuchende mit Nothilfe in der Schweiz. 13 Porträts und Gespräche
Mit Texten von Regula Badertscher, Salome Bay, Tina Bopp, Annette Bossart, Fabian Duss, Denise Flunser, Raphael Jakob, Martina Koch, David Lohner, Simone Marti, Diana Reiners, Manuel Rothe, Milena Wegelin, Marina Widmer / Mit einer Einführung von Franz Schultheis / Herausgeber Solidaritätsnetz Ostschweiz und Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz
August 2012
978-3-85791-690-8
Dreizehn abgewiesene Asylsuchende legen in Gesprächen Zeugnis ab von ihrem alltäglichen Leben. Alle leben sie in einer Art ‹geregelten Illegalität›: Sie haben keine Aufenthaltsbewilligung, sie dürfen nicht arbeiten, sie erhalten keine Sozialhilfe. Sie leben eine prekäre Existenz in der Nothilfe. Im Zentrum der Porträts stehen nicht ihre Fluchtgeschichten, sondern ihr Leben hier mitten unter uns: Da sind die zwei Brüder, die in der Schweiz aufgewachsen sind und in perfektem Baseldeutsch davon erzählen, wie gerne sie mit Freunden in die nahe Stadt Basel fahren würden und es nicht dürfen, da es ein anderer Kanton ist. Da ist die Mutter einer Teenager-Tochter, die ihr trotz äusserster materieller Not ein ‹normales› Familienleben vorzuspielen versucht und von ihr als schlechte Mutter beschimpft wird, weil sie kein Geld für neue Kleider hat. Und da ist der junge Mann, der in einem Nothilfezentrum in den Bergen lebt und gegen die Lethargie ankämpft, die ihn ständig einzuholen droht. ‹Nicht vorgesehene› Leben – gelebt in der Schweiz.
© Augustin Saleem
Marina Widmer
Marina Widmer, geboren 1956, Soziologin. Geschäftsleitung des Archivs für Frauen- Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz bis 2022. Mitherausgeberin von «Blütenweiss bis rabenschwarz. St. Galler Frauen. 200 Porträts» (Limmat Verlag) und der Monografie zu Elisabeth Gerter, «Nicht die Welt, die ich gemeint». Lebt und arbeitet in St. Gallen.Solidaritätsnetz Ostschweiz und Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz
Im Solidaritätsnetz Ostschweiz haben sich seit 2004 über 1200 Personen zusammengeschlossen, weil sie mit der heutigen Asylpolitik nicht einverstanden sind (www.solidaritaetsnetz.ch). Die Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländergesetz Ostschweiz wurde 2008 infolge der Verschärfungen der Asyl- und Ausländergesetze im September 2006 gegründet. Die Aufgabe der Beobachtungsstelle ist es, die Umsetzung der Gesetze und deren negative Folgen für die betroffenen Asylsuchenden, Migrantinnen und Migranten zu dokumentieren und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen.Von Franz Schultheis
Ein Buch gegen die Ohnmacht.Einleitung
«Du bist hier aufgewachsen, kennst alles.»Von Annette Bossart
«Das ist kein Zimmer. Das ist ein Loch!»Von Tina Bopp
«Es macht mich müde, dass jeder Tag immer gleich ist.»Von Martina Koch
«Hier oben sind nur wir ‹Asyl-Leute›.»Von David Loher
«Man verliert selbstbewusst zu sein.»Von Simone Marti
«Wenn man einem Baum kein Wasser gibt, kann er nicht gut wachsen.»Von Denise Flunser
«Da habe ich meine Zukunft verloren.»Von Manuel Rothe
«Meine Familie ist die Schweiz.»Von Diana Reiners
«Ich möchte aktiv sein und so.»Von Milena Wegelin
«Wir existieren offiziell nicht mehr.»Von Raphael Jakob
«Ich verschwende meine Zeit und meine Fähigkeiten.»Von Fabian Duss
«Es ist schwierig, wie ein Mensch zu leben.»Von Regula Badertscher, Diana Reiners, Gilles Reckinger
Asylgesetzgebung in der Schweiz.Von Marina Widmer
Glossar
Autorinnen und Autoren, Herausgeber
Ein Buch gegen die Ohnmacht
Die dreizehn abgewiesenen Asylsuchenden, die hier stellvertretend zu Wort kommen, erzahlen von ihrem Leben in der Schweiz. Die einen erzahlen in ihren Unterkunften, andere im Park oder in einem Cafe. Sie alle haben entweder einen Nichteintretensentscheid auf das Asylgesuch erhalten, oder ihr Asylgesuch wurde abgewiesen oder die vorlaufige Aufnahme, die F-Bewilligung, wurde wieder aufgehoben. Sie mussen, so der Entscheid der Behorden, die Schweiz verlassen. Was die dreizehn Personen verbindet, ist ihr Leben in der Nothilfe. Als der Artikel Recht auf Hilfe in Notlagen in die schweizerische Bundesverfassung geschrieben wurde, da war die Nothilfe als eine kurzfristige Uberbruckung in Krisenzeiten gedacht. Doch als abgewiesene Asylsuchende aus der Sozialhilfe ausgeschlossen wurden, ist die Nothilfe fur eine grosse Personengruppe auf einmal zur einer Dauereinrichtung geworden.Die Idee zu diesem Buch entstand in Gesprachen im Solidaritatsnetz Ostschweiz. Das Gefuhl, an den ausweglosen Situationen von Nothilfebeziehenden nur wenig andern zu konnen, fuhrte im Solidaritatsnetz und in der Beobachtungsstelle fur Asyl- und Auslanderrecht Ostschweiz zum Bedurfnis, einer grosseren Offentlichkeit die prekare Lebenssituation der Nothilfenbeziehenden aufzuzeigen.
Die Koordinationsgruppe des Solidaritatsnetzes beauftragte Manuel Rothe, ein Mitglied des Solidaritatsnetzes, sich Gedanken zu einem Buchkonzept zu machen. Ihn inspirierte die soziologische Studie Das Elend der Welt des Soziologen Pierre Bourdieu und er schlug vor, das Konzept der Studie aufzugreifen. Ahnlich wie bei Bourdieu sollten ausfuhrliche Interviews den Alltag der Menschen mit Nothilfe aufzuzeigen. Der Vorschlag war ambitioniert und allein nicht zu bewaltigen.
Studierende und junge Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler wie auch journalistisch Tatige im Umfeld des Solidaritatsnetzes Ostschweiz und der Bleiberechtskollektive in Bern und Zurich waren sofort bereit, am Projekt mitzuarbeiten. Franz Schultheis, Professor fur Soziologie am Soziologischen Seminar der Universitat St. Gallen und Prasident der Stiftung Pierre Bourdieu, sagte spontan zu, das Buchprojekt mit seinen Erfahrungen zu begleiten. In Seminaren haben Franz Schultheiss und Diana Reiners die Methode Bourdieus vorgestellt und mit dem AutorInnenkollektiv diskutiert. Begleitend zu den Seminaren trafen sich die Autorinnen und Autoren regelmassig zu Arbeitssitzungen und in Kleingruppen.
Die Asylsuchenden erzahlen von ihrem Alltag, von ihren Traumen und Wunschen, von ihren Angsten und Befurchtungen. Auf den ersten Blick sind es unspektakulare Geschichten, von denen die Gesprachspartnerinnen und -partner berichten: Eine Mutter beschreibt die alltaglichen Konflikte mit ihrer zehnjahrigen Tochter, wahrend ein junger Mann von den Abenden erzahlt, die er mit seinen Freunden verbringt. Ganz gewohnliche Erlebnisse also, die wir alle selber nur zu gut kennen. Und doch, etwas ist anders, ihnen wird kein Platz in unserer Gesellschaft zugestanden. Als abgewiesene Asylsuchende haben sie in der Schweiz kein Aufenthaltsrecht mehr; sie haben kein Recht auf eine Zukunft.
Die Gesprachspartnerinnen und -partner sind abgewiesene Asylsuchende, die schon langere Zeit in der Nothilfe leben. Ihre jeweilige Lebenslage konnte unterschiedlicher nicht sein: Es sind Frauen mit Kindern, Familien, alleinstehende Manner und Frauen. Pragmatisch hat sich das Kollektiv an Personen gewandt, die es aus seiner Tatigkeit kennt und die darum in Kantonen aus der Nordwestschweiz, dem Mittelland, der Genferseeregion und der Ostschweiz leben. In den Gesprachen ist auf die verschiedenen Aspekte der im Alltag erlebten Nothilfe geachtet worden. Auch wurden Themen wie Ausschluss, Arbeitsverbot, Untatigkeit, Scham und Wurde, Freundschaften, materielle Not, fehlende Mobilitat, Uber-Lebensstrategien und Umgang mit Behorden direkt angesprochen. Diese dreizehn Personen, die uns Auskunft geben, treten mit ihrer Stimme aus dem Schatten, dem Unsichtbaren, in dem sie als sogenannt Illegale verbannt sind.
Einige der Interviewerinnen und Interviewer kannten ihre Gesprachspartnerinnen und -partner bereits sehr gut, andere fanden uber Basisorganisationen den Kontakt. Die meisten Interviews fanden auf Deutsch oder in Mundart statt. Die Gesprache in Franzosisch und Englisch wurden ubersetzt. Die Mehrheit der Gesprache konnte nicht in der Muttersprache der Nothilfebeziehenden gefuhrt werden. Die Interviews sind transkribiert, etwas gekurzt und sprachlich sanft bearbeitet worden. Einige der Interviewpartner und -partnerinnen wollten mit ihrem Namen im Buch erscheinen, andere aus Angst vor Konsequenzen so anonymisiert werden, dass sie nicht erkannt werden.
Eingefuhrt wird das Buch mit dem Beitrag von Franz Schultheis uber gesellschaftliche Ausgrenzungen. Es folgen die Gesprache mit den Nothilfebeziehenden, denen jeweils ein Rahmentext vorangestellt ist. Der Rahmentext bettet das Gesprach jeweils in dessen Entstehungskontext ein und reflektiert Aspekte der Nothilfesituation. Zwei kleine Texte von Asylsuchenden schliessen sich den Interviews an. Das Buch schliesst mit einem Text zu den rechtlichen Rahmenbedingungen der Nothilfesituation verbunden mit einer kurzen Geschichte der Asylgesetzgebung und einem Glossar.
Wir danken den Autorinnen und Autoren Regula Badertscher, Salome Bay, Tina Bopp, Fabian Duss, Denise Flunser, Raphael Jakob, Martina Koch, David Loher, Simone Marti, Gilles Reckinger, Diana Reiners, Manuel Rothe, Franz Schultheis und Milena Wegelin an dieser Stelle herzlich fur ihr grosses Engagement bei der Entstehung dieses Buches. Ein Dank auch an unsere Gesprachspartnerinnen und -partner, die uns auf den folgenden Seiten einen Einblick in ihren Lebensalltag gewahren und so erst dieses Buch ermoglichen.
Im Namen des Solidaritatsnetzes Ostschweiz und der Beobachtungsstelle fur Asyl- und Auslanderrecht Ostschweiz
Die Redaktion
Annette Bossart, Marina Widmer
P.S. Buchbeilage, 11. Oktober 2012
WOZ, 22. November 2012
Programmzeitung, Januar 2013
«Das Buch schildert Zustände, die in einem Land wie der Schweiz untolerierbar sind.» P.S.
«Eine bemerkenswerte soziologische Dokumentation, die in knappen Porträts und sorgfältig geführten Interviews mit dreizehn betroffenen jungen Frauen und Männern den Alltag unter Bedingungen der Nothilfe in der Schweiz aufzeigt.» WOZ
«Die Lektüre gibt Einblick in berührende Lebensgeschichten und in dunkle Seiten unserer Gesellschaft.» Programmzeitung