365 Nummern aus dem «Katalog von Allem»
Peter K. Wehrli

365 Nummern aus dem «Katalog von Allem»

Mit Peter K. Wehrli durch das Jahr 2005. 370 Blätter als Tischabreisskalender

370 Blätter als Abreisskalender, 140x200 mm // Nur noch letzte RESTEXEMPLARE aus dem Verlagsarchiv, bitte wenden Sie sich an den Verlag.
1. Aufl., August 2004
vergriffen
978-3-85791-456-0

Schlagworte

Literatur Restexemplare
     

"Mag der eine beim Lesen an Beat-Prosa denken, ein anderer Verwandtschaften zum Gedankenblitz-Labor des alten Georg Christoph Lichtenberg spüren:
Diese Wort-Vignetten drehen den Blick aufs wirklich Wichtige." Der Spiegel

Peter K. Wehrli
© Limmat Verlag

Peter K. Wehrli

Peter K. Wehrli, geboren 1939, Studium der Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Reisen durch die Sahara und zur Piratenküste. Längere Aufenthalte in Südamerika. Redaktor beim Schweizer Fernsehen DRS. Tätigkeit als Herausgeber. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. «Zelluloid-Paradies» (1978), «Eigentlich Xurumbambo» (1992), «Katalog von Allem» (1999).

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15. Januar

15. Januar

SAMSTAG | JANUAR

15

 

die Verbindlichkeit

 

die fast beängstigende Verbindlichkeit, die der Satz des greisen Greta-Garbo-Verehrers jetzt plötzlich erhält, bei Stars spiele es keine Rolle, ob sie lebendig seien oder tot, als mir Maria Riva am 15. Januar 1993 ganz nüchtern und mit überzeugter Beiläufigkeit sagt: «Meine Mutter lebt heute mehr als vor ihrem Tod», und meine heitere Überzeugung, dass dieser so verwegen klingende Satz nicht mehr seine absolute Richtigkeit hätte, wenn Maria Riva die Tochter von jemand anderem als von Marlene Dietrich wäre.

15. Februar

15. Februar

DIENSTAG | FEBRUAR

15

 

die Beschleunigung

das Gegensteuer gegen die panikstiftende Beschleunigung der Zeit, das ich nur geben kann, indem ich den Laptop starte, weil das Schreiben das einzige Tun ist, das die Zeit aufhebt, neutralisiert und aus dem Tag eine Stunde macht, aus Wochen Tage, aus Monaten eine Woche und daraus wieder ein ganzes langes Leben.

15. März

15. März

DIENSTAG | MÄRZ

15

 

das Fernsehen

das inständige Hoffen des Knaben, dass Fernsehen außer der Massenkommunikation auch andere Aufgaben erfüllen könne, das deutlich wurde, als R.I., den die Eltern vor fünf Jahren aus dem Haus gewiesen hatten, nach seinem missglückten Selbstmordversuch sagte: «Ich suche einen Job beim Fernsehen, denn das wäre die einzige Möglichkeit, meiner Mutter wieder einmal unter die Augen zu kommen».

15. April

15. April

FREITAG | APRIL

15

 

der Fisch

die Sehnsucht nach dem Fisch, die in Robert Rauschenbergs Augen schimmerte, und der unerwartete Spannungsabfall in seiner Stimme, als er am 15. April 1993 beim Blick auf die Limmat, die an Jamileh Webers Galerie vorbeifließt, sagte, er könne deshalb nie Fischer sein, weil er die Enttäuschung darüber nicht ertrage, dass der Fisch anbeiße und mit seinem Beißen das beseligte Warten auf den Biss beende.

 

15. Mai

15. Mai

SONNTAG | MAI

15

 

das Unbekannte

die einzige Sehnsucht, der ich nicht erliegen kann, und zwar deshalb, weil es sie nicht gibt: die Sehnsucht nach etwas, das man nicht kennt;
und diese Sehnsucht nach dem, das man nicht kennt, die stärker und stärker wird, je mehr ich das, was ich nicht kenne, je mehr ich dieses Unbekannte zum Gegenstand meiner Sehnsucht erhebe.

 

15. Juni

15. Juni

MITTWOCH | JUNI

15

 

der Schrecken

der erhellende Schrecken, der mich durchfuhr, als ich in der Zeitung das altbekannte Sprichwort las «Hunger ist der beste Koch» und beim Weiterblättern ein Bild aus Afrika entdeckte, das mir zeigte, dass die besten Köche nicht für die Hungernden kochen.

 

15. Juli

15. Juli

FREITAG | JULI

15

 

der Augenblick

die lange Zeit verschüttete Erinnerung daran, dass in jenem Augenblick des Juli 1953, als ich in einem Schaufenster der Galleria Vittorio Emmanuele in Mailand zum ersten Mal Fernsehen sah, ein Bild von John Wayne in krachlederner Westernmontur auf dem Bildschirm stand, und die Frage, ob es wohl etwas mit der Faszination dieses allerersten Augenblicks zu tun habe, dass ich John Wayne als Typ nicht ausstehen kann; und die erst jetzt, wo ich mir diese Frage stelle, aufkommende Einsicht, dass meine Aversion gegen John Wayne nichts mit seinem schauspielerischen Können oder Unvermögen zu tun hat, sondern einzig und allein mit der Tatsache, dass er Mitglied der «Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals» war, die so viele künstlerisch lautere Leute wegen angeblich «unamerikanischer Aktivitäten» verfolgt hat.

 

15. August

15. August

MONTAG | AUGUST

15

 

das Papier

die Erschwerung der Arbeit, die über Mittag gar zur Verunmöglichung jeder schriftstellerischen Arbeit wird, und dies nicht etwa, weil bei 41 Grad im Schatten die Ideen ausbleiben und die Geschichten versiegen, sondern nur deshalb, weil in der pernambukanischen Hitze das Blatt Papier immer wieder an der schweißfeuchten Hand kleben bleibt, die es beschriften soll.

 

15. September

15. September

DONNERSTAG | SEPTEMBER

15

 

die Fundstücke

die Aufmerksamkeit, mit der Robert Rauschenberg am 15. September 1988 in Siegfried Kahns Alteisenlager am Bahngleise vor dem Hauptbahnhof nach verwertbaren Fundstücken sucht, und meine Frage, ob er wohl geflissentlich – oder aus uneingestandener heiliger Scheu – jenen Berg von gekreuzigten Christusfiguren aus Gusseisen übersehen habe, den die Gießerei als Ausschuss zum Alteisen geliefert hat.

 

15. Oktober

15. Oktober

SAMSTAG | OKTOBER

15

 

die Mehrheit

die mundfaule Abfälligkeit des Herrn in der blauen Windjacke, die deutlich macht, dass er zu jener Mehrheit gehört, deren Wahrnehmungsvermögen derart abgestumpft ist, dass sie das Fernsehprogramm von «Pro 7» für interessanter halten als ihr Alltagsleben.

 

15. November

15. November

DIENSTAG | NOVEMBER

15

 

 

die Unpässlichkeit

die Zerfahrenheit, die fast schon Unpässlichkeit ist, und die ich überhaupt nicht spüre, außer dann, wenn ich in einer Fremdsprache zu reden beginnen will und die Wörter und Sätze nicht leichthin – wie sonst – über die Zunge kommen, so dass ich feststellen muss, so wie ein Fieberthermometer das Fieber, so messe die Fremdsprache mein Wohlbefinden.

 

15. Dezember

15. Dezember

DONNERSTAG | DEZEMBER

15

 

das Blitzlicht

das nächtliche Gewitter über Armação de Pêra in der Nacht auf den 15. Dezember 1992, das uns mit seinen pathetischen Lichtgarben und dem Donnergedröhn aus dem Schlaf schreckt, dieses Naturereignis, das Rara und ich sicher nicht mit derselben Aufmerksamkeit beobachten würden wie das Leuchtspektakel auf einer Bühne, wenn wir nicht gerade einige Tage vorher in Stählis Galerie Michael Bibersteins Bilder gesehen hätten mit den Landschaften, deren Licht das Licht des Blitzes ist, das Blitzlicht, weshalb wir uns nun in dieser Nacht bei jedem Blitzschlag, der die Küste erleuchtet, fragen, wie nah die Natur wohl Biberstein komme, und nicht etwa – wie es normaler schiene – umgekehrt.

 
SonntagsZeitung, 26. Dezember 2004
Kulturmagazin, 29. Dezember 2004
Neue Luzerner Zeitung, 30. Dezember 2004

«Mag der eine beim Lesen an Beat-Prosa denken, ein anderer Verwandtschaften zum Gedankenblitz-Labor des alten Georg Christoph Lichtenberg spüren: Diese Wort-Vignetten drehen den Blick aufs wirklich Wichtige.» Der Spiegel

«Diese eigenwillige literarische Form zwischen Kürzestgeschichte und Aphorismus hat Wehrli in mehr als 30 Jahren hartnäckiger Arbeit zu seiner Spezialität, seiner Marotte und seinem Markenzeichen perfektioniert.» SonntagsZeitung

«Obwohl darin von H. C. Artmann über Bob Dylan, Peter Handke und John Huston bis zu Andy Warhol und Orson Welles die ganze Film- und Literaturszene präsent ist, bleibt Wehrlis Buch konsequent bei seiner asketischen Anlage und macht nicht einen Augenblick auf Klatsch und Sensation, ja auch über den Verfasser selbst erfährt man aus all den Notaten nie etwas Privates oder Intimes. Und dies, obwohl man eigentlich nicht ungern erfahren würde, wer er denn nun eigentlich sei, dieser schreibende TV-Regisseur, der die Chuzpe hat, die ganze Welt in einem trockenen Katalog zu versammeln, ohne dem Leser auch nur ein einziges Mal die Aufgabe abzunehmen, die protokollierten Phänomene und Beobachtungen selbst zu Komödien oder zu Tragödien zusammenzufügen.» Der Bund