Friedrich Glauser
Dada
und andere Erinnerungen aus seinem Leben
März 2013
978-3-85791-702-8
Friedrich Glauser hat sein schwieriges Leben nicht nur immer wieder literarisch verarbeitet, er hat auch wiederholt Erinnerungen an markante Ereignisse in seinem Leben schriftlich festgehalten. Sie sind immer brillant geschrieben und zeugen von einem grossen psychologischen Gespür und tiefem Lebenswissen. Oft sind die Berichte von einer lakonischen Gelassenheit, sie strahlen selbst dann noch Wärme aus, wenn er zur Satire greift. So erzählt er etwa, wie die 'Individualpädagogik' im Landerziehungsheim Glarisegg am Bodensee nicht immer in der gewünschten Art fruchtbar geworden ist. Oder er berichtet als einer der wenigen bei Dada aktiven Schweizer ganz von innen aus den Anfängen dieser Bewegung. Ebenso unnachahmlich beschreibt er die Ansammlung an Lebensreformern und Künstlern in Ascona, und er schreibt offen und ohne Beschönigung von dunklen Zeiten, etwa in der Fremdenlegion oder in Frankreich, oder vom Kreislauf der Sucht.
© Gotthard Schuh / Fotostiftung Schweiz
Friedrich Glauser
Biographie |
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1896 | 4. Februar: Friedrich Karl Glauser wird in Wien geboren. |
1900 | Die Mutter stirbt. |
1902 | Eintritt in die Evangelische Volksschule am Karlsplatz. |
1906 | Eintritt ins k. u. k. Elisabeth-Gymnasium. |
1909 | Berufung des Vaters an die Handelshochschule Mannheim. |
1910 | Eintritt ins «Schweizer Landerziehungsheim Glarisegg» am Bodensee. |
1913 | Selbstmordversuch; Rauswurf aus Glarisegg und Eintritt ins Collège de Génève. |
1915 | Freiwillig vorgezogener Wehrdienst in der Schweizer Armee. Erste Veröffentlichungen. |
1916 | Volljährigkeit. Abbruch der Beziehungen zum Elternhaus. Matura am Institut Minerva in Zürich. Immatrikulation als Chemiestudent an der Universität Zürich. Bekanntschaft mit Dada-Künstlern. |
1917 |
Weigerung des Vaters, Glausers Schulden weiter zu bezahlen; Antrag auf psychiatrische Untersuchung. Teilnahme an den ersten beiden Dada-Soiréen. Entmündigungsverfahren. Tätigkeit als Milchausträger. Beginnende Lungentuberkulose, Morphiumbehandlung. |
1918 | Flucht und Entmündigung durch die Amtsvormundschaft Zürich in Abwesenheit. Anfang Juni Verhaftung in Genf nach kleineren Diebstählen. Einweisung in die Psychiatrische Klinik als Morphiumsüchtiger. Diagnose: Dementia praecox. |
1919 | Flucht aus der Anstalt. |
1920 | Zusammenleben mit Elisabeth von Ruckteschell in einer alten Mühle bei Ronco. Erneute Morphiumabhängigkeit und Verhaftung in Bellinzona, Selbstmordversuch. Nach heftigen Entzugserscheinungen und einem Blutsturz Einlieferung ins Inselspital Bern. Nach versuchter Rezeptfälschung Einweisung in die Irrenanstalt Hollingen. Flucht mit Hilfe Elisabeth von Ruckteschells zu Hans Raschlenach nach Baden. Eintritt in die Psychiatrische Klinik Burghölzli in Zürich. Ab Oktober mit Billigung der Behörden bei Hans Raschle in Baden. |
1921 | Aushilfe bei einem Lebensmittelhändler. Volontär bei der «»Schweizerischen Freien Presse». Erneute Morphiumsucht, Flucht zum Vater nach Mannheim. Eintritt in die Fremdenlegion. |
1922 | Selbstmordversuch, Malaria. |
1923 | Ausmusterung wegen eines Herzfehlers. In Paris längerer Spitalaufenthalt und Arbeit als Tellerwäscher-Arbeit in einer Kohlegrube in Charleroi (Belgien). |
1924 | Malaria, Morphiumsucht, Selbstmordversuch. Nach einem im Morphiumdelirium verursachten Zimmerbrand Einweisung in die Irrenanstalt Tournai. |
1925 | Rückschaffung in die Schweiz; Psychiatrische Klinik Münsingen. Einweisung in die Haft- und Arbeitsanstalt Witzwil. Selbstmordversuch. |
1926 | Entlassung aus Witzwil. Handlanger in der Gärtnerei Heinis in Liestal. Erneute Morphiumsucht und Rezeptfälschungen. |
1927 | Verhaftung wegen fortgesetzten Opiumdiebstahls in einer Apotheke. Eintritt in die Anstalt Münsingen. Psychoanalyse bei Max Müller. |
1928 | Hilfsgärtner. Gemeinsame Wohnung mit Beatrix Gutekunst in Basel. Beginn der Arbeit am Legionsroman «Gourrama». Opiumrückfälle. Zusage eines Kredits von 1500 Fr. für «Gourrama» durch die Werkbeleihkasse des Schweizer Schriftstellervereins. Aufgabe der Gärtnerarbeit und Umzug nach Winterthur zu Beatrix Gutekunst, die dort eine Tanzschule eröffnet hat. |
1929 | Erneute Morphiumsucht. Schwierigkeiten mit der Werkbeleihkasse, die ihre letzte Ratenzahlung von einer Überarbeitung des Romans abhängig macht. Arbeit als Gärtner und Verhaftung nach einer Rezeptfälschung. |
1930 | Anstalt Münsingen. Abschluss von «Gourrama». Gartenbauschule Oeschberg. Findet keinen Verlag. |
1931 | Gartenbauschuldiplom. Selbstentwöhnungsversuch. Anstalt Münsingen. Nachanalyse bei Max Müller. Beginn an «Tee der drei alten Damen». |
1932 | Übersiedlung nach Paris mit Beatrix Gutekunst. Versuch, als freier Journalist und Schriftsteller zu leben. Opiumrückfälle. Abbruch des Pariser Experiments und Besuch beim Vater in Mannheim. Festnahme wegen Rezeptfälschung. Antrag des Vaters, Glauser lebenslänglich in der Schweiz zu internieren. Ausweisung. Anstalt Münsingen. Ende der Beziehung mit Beatrix Gutekunst. |
1933 | Beginn der Freundschaft mit Berthe Bendel. Zusage für die Stelle als Verwalter eines kleinen Gutes in Angles bei Chartres. Zustimmung des Vormunds und der Anstaltsleitung, Versicherung Berthes, Glauser zu begleiten, sie kündigt. |
1934 | Weigerung der Anstaltsleitung und des Vormunds, Glauser nach Angles gehen zu lassen. Unbefristete Internierung. Verlegung in die Anstalt Waldau bei Bern. Erster Preis beim Kurzgeschichten-Wettbewerb des «Schweizer-Spiegel.» Verlegung in die Kolonie Anna Müller in Münchenbuchsee. «Tee der drei alten Damen» beendet. Entlassung, Opiumrückfälle, Rezeptfälschungen. |
1935 | Erneute Internierung in der Waldau. Versetzung in die offene Kolonie «Anna Müller» in Schönbrunnen bei Münchenbuchsee. «Schlumpf Erwin Mord» wird fertig, Einsendung an den Morgarten-Verlag. Flucht aus der Kolonie «Anna Müller». Lesung im Rabenhaus bei Rudolf Jakob Humm. Berthe Bendel gibt ihre Stelle in Kreuzlingen auf und kommt zu Glauser nach Basel. Rückkehr in die Waldau. Beginn mit der Arbeit an der «Fieberkurve» |
1936 | Annahme von «Schlumpf Erwin Mord» durch die «Zürcher Illustrierte» und den Morgarten-Verlag. Vergebliche Versuche, «Gourrama» bei der Büchergilde unterzubringen. Entlassung aus der Waldau. Kurzer Aufenthalt bei Josef Halperin in Zürich, «Matto regiert» wird fertig und von der Zeitschrift «Der öffentliche Dienst» angenommen. Lesung bei Humm im «Rabenhaus». Ankunft in Angles bei Chartres; in der Folge Bewirtschaftung des kleinen Gutes von Ernst Jucker, eines Schweizer Bankiers in Paris. Annahme der «Fieberkurve» durch den Morgarten-Verlag unter der Bedingung, dass Glauser den Roman überarbeite. Aufnahme in den Schweizerischen Schriftstellerverein. Auftrag für einen kurzen Studer-Roman vom «Schweizerischen Beobachter». «Wachtmeister Studer», Glausers erstes Buch, erscheint im Morgarten-Verlag, Zürich. |
1937 | «Matto regiert» erscheint im Jean Christophe Verlag, Zürich. Glausers Exposé zum Roman «Der Chinese» wird für den Wettbewerb des Schweizerischen Schriftstellervereins angenommen. Umzug nach La Bernerie (Loire). Beendigung der zweiten Fassung der »Fieberkurve». Aufnahme einer Radiolesung. Beendigung von «Krock & Co.». Artikel über Gides «Retouches à mon retour de l'U.R.S.S.» und nach Erscheinen im «ABC» heftige Kontroverse mit Humm über Gides, den Stalinismus und die Linke. Tod des Vaters. |
1938 |
Eintritt in die Klinik Friedmatt, Basel, zur Entziehungskur. Unfall im Baderaum der Klinik; Schädelbasisbruch und schwere Gehirnerschütterung. 1. Preis im Wettbewerb des Schweizer Schriftstellervereinsfür «Der Chinese». Vergebliche Bemühungen, in Basel zu heiraten. Die Schweizer Schillerstiftung spricht Glauser eine Anerkennungsgabe von 500 Franken zu. Übersiedlung nach Nervi bei Genua. Arbeit an drei verschiedenen Roman-Projekten (Ascona-Roman, Charleroi-Roman, «Mord in Angles»). Am 6. Dezember: Glauser bricht am Vorabend der Hochzeit beim Abendessen zusammen und stirbt am 8. Dezember |
Im Landerziehungsheim
Dada
Ascona ― Jahrmarkt des Geistes
Im afrikanischen Felsental
Unten
Zwischen den Klassen
Alle Texte sind der vierbändigen Ausgabe Friedrich Glauser: Das erzählerische Werk. Herausgegeben von Bernhard Echte und Manfred Papst des Limmat Verlags entnommen und folgen den dort wiedergegebenen Fassungen. Auskunft über Entstehung und textkritische Anmerkungen findet sich dort in den Anhängen. Alle vier Bände sind als Taschenbuch lieferbar im Unionsverlag.
Im Landerziehungsheim
Das einzig Bleibende, das wir aus unserer Jugend bewahren, sind Bilder, und diese schlummern in uns. Manchmal nur weckt sie ein Geruch, ein Lied, ein Geschmack. Aber dann sehen wir sie plötzlich mit einer fast blendenden Deutlichkeit, unübertrefflich klar und scharf sind sie, und erst durch sie, durch diese Bilder, werden die Gefühle wieder lebendig, die uns damals ergriffen hatten. Dann kann es sein, dass das Erlebnis, das mit einem Bilde zusammenhängt, langsam Uns wieder einfällt, nicht so stark wie damals, denn die Jahre haben es verschüttet; aber es bleibt uns doch eine Erinnerung an die erwartungsvolle Angst, die wir damals gespürt haben. Bitter und süß ist sie, wie starker türkischer Kaffee. Es kann manchmal schön sein, auf die «Suche nach der verlorenen Zeit» zu gehen.
Das Schweizer Landerziehungsheim – abgekürzt S.L.E.H. – lag auf einem Hügel, und der See war sehr nahe. Ein Sonderling hatte es zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts bewohnt, und Goethe hatte diesen Mann besucht, aber der ließ sich nicht blicken. So schrieb der Geheimrat folgende Verse an das Tor.
«Als Gottesspürhund hast du stets dein freches Spiel getrieben,
Die Gottesspur ist nun vorbei und nur der Hund ist dir geblieben.»
Es stimmte, auch heute noch. Die Gottesspur war vorbei. Der Pfarrer, der allwöchentlich kam, um uns die Weizäcker'sche Übersetzung des Neuen Testamentes liberal auszulegen, beschränkte seinen Protest gegen die freie Richtung der Schule auf eine kleine Demonstration: er badete mit Badehosen, während wir im Wasser herumschwammen ohne dieses Kleidungsstück. (Das war 1911 und damals sprach man nicht von Nacktkultur. Das ganze wurde dadurch selbstverständlich.) Und gebadet wurde im See von Ende April bis in den Oktober hinein, obligatorisches Baden, um 1/2 4 Uhr, nach der Feldarbeit, und die Lehrer badeten mit uns. Übrigens störte uns der stumme Protest des Pfarrers gar nicht. Wir dekorierten dafür die Wände des Klassenzimmers, die Tafel, die Bänke mit ausgeschnittenen Bildern aus dem Simplicissimus und der Jugend, was ihn ärgerte. Aber er konnte nichts dagegen tun; der Direktor fand es sehr komisch.
Und dann, wenn die Herbstnebel das Land decken und sich mit dem Rauch von verbranntem Holz mischen, sehe ich den Platz vor dem Schloss; wir sind in zwei Reihen angetreten zum Dauerlauf, es ist dämmrig. Die um die Mittagszeit grellgelben Blätter der Zwergbirnbäume sind bleich, den See verdeckt eine wattige Masse, die in langsam-zäher Bewegung ist. Um eine Ecke des Hauses biegt der Deutschlehrer, ein kleines Männchen mit Galoschenkinn und graumeliertem Schnurrbart, das aussieht wie die Taschenausgabe eines britischen Obersten («Hott» nennen wir ihn, weil er zur Feldarbeit immer eine blaue Überbluse trägt, wie ein Fuhrmann), und er hat heute Aufsicht. Oben an einem Fenster des ersten Stockwerks erscheint der Direktor, er hat noch verstrubbelte Haare, und sein roter Spitzbart steht schief, das kommt vom Liegen. Wir aber sind angetreten zum Dauerlauf, und der wird von einem von uns kommandiert, Cavaluzz nennen wir ihn; er ist ein untersetzter, breiter Bursche, und Cavaluzz heißt er, weil sein Vater Major ist (nach der Balladevon Spitteler. «Herr Cavaluzzi, der Major»). «Ausrichten!», sagt er, und er kontrolliert, ob wir zwei parallele Geraden bilden. «Lauf Barriere!» kommandiert er dann und versucht die Stimme seines Vaters nachzuahmen; aber der Schneid misslingt ihm. Er ist nämlich musikalisch, trägt eine blonde Künstlermähne und komponiert. Nach dem Laufe müssen wir unsere Betten machen, dann gibt es zum Frühstück Haberbrei mit kalter Milch und Kakao. Und obwohl wir schon lange den Geruch des Haberbreis, des Porridge, nicht mehr ausstehen können, essen wir doch, denn wir sind hungrig.
Und dann beginnt die Schule. Die Klassen sind nicht scharf getrennt. Mit Corbaz, einem gemütlichen Neuenburger, der zwei Jahre älter ist als ich, mit Stein und Rösel hocke ich in der höchsten Klasse, in der siebenten. Aber nur für Französisch. Für die Hauptfächer bilden wir die fünfte Klasse, und wir sind eine etwas sonderbare Clique. Man hat es schwer mit uns, wir sind «Dilettanten», wie der Direktor und der Hott uns gern nennen, es fehlt uns an Ernst. Das kommt aber eigentlich nur daher, dass wir den Phrasen abhold sind, dass wir alle einen kleinen Sparren haben. Zu unserer eigenen Entschuldigung führen wir unsere Familienverhältnisse an. Die sind nicht ganz koscher, wie Rösel sagt der gedrungen, leicht verfettet und schwarzhaarig ist, sich einer merkwürdig penetranten juristischen Denkweise befleißigt und auf seine israelitische Abstammung nicht nur stolz ist, sondern sie auch bewusst betont. Seine Sprache, seine Aufsätze wimmeln von Fremdwörtern, in die Unterhaltung flicht er gern jiddische Ausdrücke ein. Er sagt «Fisimatenten» und «Mischpoche», wenn er von seiner Familie spricht. Dem Hott geht er auf die Nerven, weil er in seinem Aufsatzstil Thomas Mann kopiert.
«Glausers Kindheitserinnerungen sind ein Suchen nach den Ursachen seines unsteten Lebens, das ihn in Erziehungsheime, Gefängnisse und Anstalten führen wird.» Sax, das Dresdner Stadtmagazin
«Spannende Lektüre! Das faszinierende daran ist seine Aktualität.» P.S.
«Es ist sehr erfreulich, dass sich der Limmat Verlag in dieser eleganten Edition seinem Autor Friedrich Glauser auch nach Auslaufen der urheberrechtlichen Schutzfrist mit grosser Zuneigung widmet. Glauser-Freunden und allen Lesern, die dessen erzählerisches Werk gern kennenlernen würden, seien dieser Band und seine vier Geschwister sehr ans Herz gelegt.» literaturkritik.de
«Neben den besser bekannten Romanen kommt Glausers Erzählungen, beispielhaft editiert von Bernhard Echte und Manfred Papst, ein besonderes Gewicht zu. Aus dieser Ausgabe erscheinen seit einiger Zeit elegante, schmale Bände mit erzählerischen Kostbarkeiten. Sie finden in jeder Handtasche Platz. Glausers eminente physiognomische Kunst kennzeichnet alle diese Texte und oft genug erwiesen sich die dargestellten Lebenssituationen als epochenspezifisch.» Neue Zürcher Zeitung
«Es ist wirklich die lichte, völlig unprätentiöse Art, scheinbar ganz schlicht Richtiges, Treffendes und daher Schönes zu sagen, welche die Glauser'sche Prosa auszeichnet. Das betrifft sowohl die Klarheit der Komposition als auch die gelegentlich frappierend entkünstelte Sprachkunst, die noble Eleganz feinster Einfachheit einzelner Phrasen.» Franz Siepe, In: Hugo-Ball-Almanach