Das «Lied von der Arbeit» oder ein Tag im Dienst der A.G.
Inge Horstmann

Das «Lied von der Arbeit» oder ein Tag im Dienst der A.G.

Bürokultur im kriegszerstörten Berlin

Herausgegeben von Burkhart Lauterbach

Das volkskundliche Taschenbuch [39]

72 Seiten, gebunden, 72 Seiten
Mai 2005
SFr. 19.–, 19.– €
vergriffen
978-3-85791-482-9
     

Ein Fundstück unbekannter Herkunft schildert mit Zeichnungen und gereimten Versen das Arbeitsleben in einer Versicherungsfirma inmitten der Trümmer an der Bismarckstrasse 113 im Nachkriegsberlin. Wilhelm Busch scheint Pate gestanden zu haben, als Inge Horstmann ihrem «verehrten Chef» dieses gezeichnete Arbeitslied «in Dankbarkeit gewidmet» hat. Dieser ist ein wahrer kleiner Führer – «ruhig, sicher, imponierend, mit fester Hand die Zügel führend» –, ein gerechter, aber strenger Patron mit Ansprüchen: «ein vorwurfsvoller Blick genügt, dass alles um die Wette ‹fliegt›». Ihm zur Seite «waltet tatenlustig sie, die ‹Mutter der Kompanie›»: eine Sekretärin mit «blauen Augen, blondem Schopf». Und «alle, Chef wie Personal», widmen «mit vereinten Kräften sich den Versicherungsgeschäften», Überstunden und Nachtarbeit inbegriffen: ein munteres, fleißiges, umsichtiges Treiben meistert alle Schwierigkeiten «still und friedlich, zuverlässig, unermüdlich», ein Fest der deutschen Sekundärtugenden.

Überstunden mit dem Chef

 

29

Jede Woche Freitag Nacht,
(oft auch Dienstag) wenn die andern
schnellen Schrittes heimwärts wandern,
wird auch «Nachtdienst» hier gemacht —
— — — — — — — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — — — — — 

30

Durch das totenstille Haus
geistern eil’ge Nachtgespenster,
hell glänzt hier und da ein Fenster
und es sieht nach Arbeit aus —
— — — — — — — — — — — — —
Doch zu mitternächt’ger Stunde
schweigen plötzlich die Maschinen,
friedlich glätten sich die Mienen,
denn man ruft zur «Kaffeerunde» —

32

Tassen klappern, Löffel klirren,
Scherze, Reden, Fragen schwirren —
im Gespräch, im angeregten
«tagt» (?) der «Club der Unentwegten»
— — — — — — — — — — — — —
Schweigend hört der Chef voll Ruh
lächelnd dem Geschnatter zu,
während er, still amüsiert,
Zigaretten offeriert —

33

Dann macht, ein Gähnen unterdrückend,
im Waschraum man Toilette nun,
frisiert und wäscht sich — wie erquickend! —
und — ist bereit zu weit’rem Tun — — —
— — — — — — — — — — — — — — — — —

34

Es füllen langsam sich die Mappen,
bis in der Frühe, stolzgestrafft,
(wenn auch die Augenlider klappen)
man feststellt: so! Das wär’ geschafft …!
Ab ein Uhr wird mit frischer Kraft
fleissig wiederum geschafft,
rastlos die Maschine hämmert,
bis der graue Morgen dämmert —
(denn die Nacht — das weiss man ja! —
Ist nicht allein zum Schlafen da!)
— — — — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — —

36

Am Samstag Mittag, herzhaft gähnend,
die müden Glieder reckend, dehnend,
schon halb in Schlummer sanft versenkt,
man seine Schritte heimwärts lenkt —
— — — — — — — — — — — — — — — —

37

Im Zug schon nickt man, schlafgebannt,
Interesse kann man nicht mehr zeigen —
die Zeitung gleitet aus der Hand,
man sinkt ins Bett — der Rest ist Schweigen —!

38

Literaturkurier (Deutschlandfunk), 1. September 2005
Die Welt, 4. Oktober 2005
Tagesspiegel, 18. Dezember 2005
Freitag, 20. Januar 2006

«Eine Geschichte wie von einem fremden Planeten hat der Limmat Verlag da ausgegraben - dabei handelt es sich doch nur um ein paar Tuschezeichnungen und Verse (à la Wilhelm Busch), die eine gewisse Inge Horstmann Ende der 1940er Jahre in Berlin über ihren Arbeitsalltag in einer Versicherungsgesellschaft hinterlassen hat. Man kann die Beschreibungen des fleißigen, allmächtigen Chefs, der Betriebsfeier und der arbeitsamen Sekretärinnen wahlweise als unterhaltsames Relikt vergangener Tage, als Fortsetzung des Angestelltenromans der Weimarer Republik oder als Spott und Satire lesen.» Literaturkurier (Deutschlandfunk)

«Man will es mal eben durchblättern, bleibt dann aber doch hängen – und begreift plötzlich etwas von der Zeit zwischen 1945 und 1948.» Tagesspiegel

«Die Wiederkehr der Aufbautugenden aus der Wirtschaftswunderzeit wird derzeit ja überall angemahnt. Als Anregung dafür eignet sich hervorragend ein Zeitdokument aus dem Berliner Arbeitsalltag vor der Währungsreform, das nun ausgerechnet in einem Schweizer Verlag als ‹volkskundliches Taschenbuch› veröffentlicht wurde. (...)
Der Chef ist eine Gestalt, wie sie aus dem Wirtschaftsleben völlig verschwunden ist: Von gottähnlicher Autorität und Einsatz bis zur Erschöpfung fordernd, aber ohne Launen, Mobbing und Psychotricks. Der Herausgeber Burkhard Lauterbach schreibt im Vorwort: ‹Hinter Titeln wie Chef und Direktor verbirgt sich noch nicht, wie heutzutage, eine anonyme Gruppe von Führungskräften, die, von weltbekannten Kunstwerken und exotischen Pflanzenarrangements umgeben, in obersten Stockwerken von Bürotürmen hinter sündteuren Designerschreibtischen residieren und damit für ihre Angestellten räumlich sowie sozial unerreichbar sind.›» Die Welt
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